Die Presse

28.10.2017

von Evelyn Christina Bubich

 

Von Möwen und dem Lauf der Zeit 

 

Mit Kameraauge: Patricia Brooks’ als Krimi getarnter Roman zwischen Chaos- und Spieltheorie

Der Möwe als Krafttier und Hoffnungsbringer weist man eine schicksalshafte Wirkung zu. Der in Wien geborenen Autorin Patricia Brooks dient sie als Galionsfigur für ein Buch, in dem mächtige Schicksalsverknüpfungen eine bedeutende Rolle spielen.

Bald wird sich zu einem großen Ganzen formen lassen, was sich erst in einem markanten Detail ausdrückt, als im Zuge von Bauarbeiten rund 30 Kilometer von Triest entfernt Teile eines Skeletts aus der Erde geborgen werden. Und erst mag es auch bloß dem Zufall zugeschrieben bleiben, dass der Fund dieser bald als menschlich identifizierten Knochen ausgerechnet auf jemanden zurückgeht, der als ehemaliger Kriegsflüchtling selbst Teile einer schwer zu bewältigenden Vergangenheit in den Untiefen seiner Seele verborgen hält.

Doch schon zu Beginn ihres verworrenen Handlungs- und Figurenmosaiks, das seinen für den weiteren Verlauf des Romans substanziellen Ausgangspunkt in der Entdeckung eines vermeintlichen Mordes definiert, bedient sich die Autorin einer Stilistik, die kraft metaphorischer Bilder und Prozesse die Körperlichkeit der zu erzählenden Geschichte um die Ebene des Geistigen und Emotionalen ergänzt.

Etwas, was vor langer Zeit verschüttet wurde und in diesem Zustand trügerischer Abwesenheit dem Augenschein nach kein weiteres Aufsehen erregt hat, tritt wieder zutage und damit – willkürlich oder nicht – mit jemandem in Kontakt, der darin die Fragilität seines eigenen Lebens bewusst wahrnimmt. Ein System der Willkür, die in ihrer nahezu meisterhaften Komposition der Geschehnisse nun keine mehr ist, setzt sich fort und wird zu jenem wegweisenden Bedeutungsprinzip erhoben, das dem Roman innewohnt: Jede noch so kleine Handlungsentscheidung, mutet sie in ihrer Ausführung auch bedeutungslos an, kann im Leben anderer gravierende Konsequenzen nach sich ziehen – sinngemäß also eine folgenschwere Mixtur zwischen Chaos- und Spieltheorie, insofern man das Leben gleichermaßen als komplexes System wie als Spiel im sozialpsychologischen Sinn erachtet.

Erstere geht im Übrigen auf den Meteorologen Edward N. Lorenz zurück, der einem einzelnen Flügelschlag einer Möwe die Kraft zugeschrieben hat, den Verlauf des Wetters drastisch zu verändern – ein vornehmlich als Metapher verstandenes Phänomen. Der mit dem ersten Kapitel einsetzende Figurenreigen versetzt die Leserschaft schon sehr bald 38 Jahre zurück und kommt zwar gänzlich ohne Gesang, jedoch mit nicht gerade wenigen – trotz ihrer kurzen Auftritte scharf gezeichneten – Protagonisten aus, deren Schicksale allesamt miteinander verwoben sind: junge Menschen auf einer letzten gemeinsamen Reise, ein Mädchen, das gern die über ihm kreisenden Möwen beobachtet, oder ein Kleinkrimineller mit großen Plänen.

Als pendle sie zwischen Leben und Tod wie zwischen zwei sich gegenüberliegenden Polen, verankert Brooks, in deren Sprache ein Wechselspiel von nüchtern stakkatoartig und philosophisch anmutend auszumachen ist, den eigentlichen Beginn der zu erzählenden Handlung also in der Vergangenheit, die zu diesem Zeitpunkt einen völlig anderen Lauf hätte nehmen können.

Mit dem wachsamen Auge eines Kameramannes, den sie in ihrem vordergründig als Krimi getarnten Text in der Erscheinung eines jugendlichen Amateurfilmers auch sinngemäß als Randfigur installiert, fängt sie die losen Handlungssequenzen mit ihrer Linse ein und fügt diese zu einem literarischen Ganzen. So nimmt ein Puzzle der unterschiedlichsten Psychogramme und individuellen Entscheidungen langsam Gestalt an, während parallel dazu ein kritisches und generationenübergreifendes Gesellschaftsbild modelliert wird.

Was übrig bleibt, ist die Frage nach der Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme auf das eigene Leben. Und das Buch lehrt uns, wer seine Kraft nutzt, wird jedem Flügelschlag zumindest etwas entgegenzusetzen haben.

 

 

Podium

15.11.2017

von Monika Vasik

 
Der Flügelschlag einer Möwe

 

Patricia Brooks stellt ihrem Buch die wissenschaftliche Frage des Meteorologen Edward N. Lorenz voran, der diese in den 60er-Jahren durch Computerberechnungen selbst beantwortete, nämlich ob der Flügelschlag einer Möwe, oder, wie er später sagte, eines Schmetterlings am anderen Ende der Welt einen Tornado auslösen könne. Im Mittelpunkt des Romans steht eine Cold-Case-Geschichte, der Mord am Kleinkriminellen Corrado, der sich in mafiöse Machenschaften verstrickte. 2018 wird seine skelettierte Leiche bei Bauarbeiten nahe Triest ausgegraben. Bisher ist er niemandem abgegangen und man kann vermuten, dass das Verbrechen auch jetzt nicht gelöst werden wird. Brooks blendet 38 Jahre zurück, als der Mord geschah. Sieben junge Menschen aus Wien verbringen ihre Maturareise im italienischen Sistiana. Es ist ein unbeschwertes Verweilen im Zwischen von Ende und noch nicht klar umrissenem Neubeginn, als der Mord geschieht, der die Leben nicht nur aller Beteiligten und deren Kinder, sondern sogar noch jenes des Baggerführers beeinflusst, der, durch die Ermittlungen aufgehalten, die Geburt seiner Tochter versäumt. Multiperspektivisch begleitet Brooks die handelnden Personen in 27 Geschichten, denen sie jeweils Namen, Ort und Jahr als Titel voranstellt. Es ist ein lebendig und mitreißend erzähltes Buch, das zwischen Triest und Wien pendelt und Abstecher nach London, Ancona, Mailand und ins Burgenland unternimmt. Da ist zum Beispiel Tati, die zufällig diesen Mord beobachtet, den die Carabinieri der Verstörten nicht glauben, weil die Leiche fehlt. Ihr ganzes Leben wird davon überschattet, wie auch jenes von Willi, der betrunken die Leiche entdeckt und das Kuvert mit Bestechungsgeld entwendet. Besonders berührend die Geschichte von Rosanna, einem missbrauchten Kind, das mit 14 von zu Hause ausreißt, als Straßendiebin von Tag zu Tag lebt, schließlich bei Corrado unterschlüpft und von ihm nichts als rohe Gewalt erlebt. Durch glückliche Fügung kommt sie nach Wien, arbeitet sich von der Küchenhilfe zur Köchin empor, verwandelt die ehemalige Pizzeria „Da Nino“ in ein Gourmetrestaurant und findet hier etwas wie Glück. Ein spannender Roman, der packt und nicht mehr loslässt, der Zufälle und Versäumnissen nachspürt, von Unausweichlichkeiten erzählt und vom Unausgesprochenen, das als Sicherheitsabstand für alle Seiten dient.

 

 

Tiroler Tageszeitung

12.06.2017

von Ewald Baringer

 

Der Flügelschlag einer Möwe: Brooks legt verästelten Krimi vor

 

Hat ein Mord auch Folgen für jene, die gar nicht wissen, dass er stattgefunden hat? Eine suggestive Frage, die Patricia Brooks in ihrem Roman „Der Flügelschlag einer Möwe“ eindeutig bejaht. Sie legt einen weit verästelten Cold-Case-Krimi zwischen Wien und Triest vor, der zudem das treffende Bild einer Lost Generation zeichnet.

Die Redewendung „Wenn in China ein Fahrrad umfällt“ ist zur Metapher für absolute Bedeutungslosigkeit geworden. Der Meteorologe Edward N. Lorenz wirft - im als Motto dem Roman vorangestellten Zitat - die Gegenfrage auf, ob nicht der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen könne. Der Schmetterlingseffekt bestimmt auch den Plot des Romans, wenngleich der Auslöser in diesem Fall ein Mord ist - und somit nicht unbedingt in die Kategorie kleinster Ursachen einzureihen.

Eine Maturareise nach Triest im Jahr 1980 bildet den Ausgangspunkt für sich über Jahrzehnte bis in die Gegenwart erstreckende, detailreich berichtete biografische Ereignisse. Die persönlichen Schicksale der beteiligten Personen - von Tati, der Augenzeugin des Mordes, die ein hartnäckiges Trauma davonträgt, über den smarten Willi, der mit aufgefundenem Erpressungsgeld seine Existenz begründet, bis zur damals 15-jährigen Taschendiebin Rosanna, die später als erfolgreiche Gastronomin in Wien Fuß fasst - sind miteinander samt Nachkommenschaft auf teils ersichtliche, teils unbewusste Weise verknüpft.

Es ist jedenfalls eine „merkwürdige Generation“, deren schwieriges Los Brooks skizziert und „die in der Zeitgeschichte zwischen den Stühlen sitzt.“ Zu jung für die 68er, tendenziell links sozialisiert, gegen Atomkraft und Staudämme, gleichzeitig konsumorientiert und durchaus kapitalistisch gesinnt. „Sie sind wie verwöhnte Kinder“, lässt Brooks die junge Asha über ihre Elterngeneration urteilen. „Umso perplexer waren sie dann, als das Blatt sich zu wenden begann. Sie empfanden es als ungerecht und wussten nicht, wie ihnen geschah.“

Neben diesem gesellschaftlichen Befund gibt es im Roman durchaus weitere beachtliche Fundstellen: Kluge Einsichten wie „Im Jetzt liegt immer ein Verlust“ oder „Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern, nur notdürftig reparieren“, Sätze wie „Du hättest ihn nicht schlagen dürfen, aber ich bin sehr froh, dass du es getan hast“ (zur Kellnerin angesichts eines übergriffigen Restaurantgasts). Ratsam ist es - und keiner Überwindung bedarf es -, das Buch in einem Durchgang zu lesen, um nicht den Überblick zu verlieren im doch beträchtlichen Personalaufkommen. Der bosnische Immigrant Milo, der als Baggerfahrer zu Beginn vorgestellt wird, hat seine Schuldigkeit bald getan, so mancher Name fällt, um nie wieder vorzukommen. Aber so ist es wohl auch im realen Leben, von dem Brooks als aufmerksame Beobachterin und Zeitgenossin kundig zu berichten weiß.

www.tt.com/home/13088955-91/der-flügelschlag-einer-möwe-brooks-legt-verästelten-krimi-vor.csp

 

KUNO

09.06.2017

Matthias Hagedorn

 

... diese Prosa klingt zuweilen wie hypnotisiert und hat selber hypnotisierende Wirkung

 

Ihr neuer Roman ist eine Reflexion über die rasende Zeit. In Der Flügelschlag einer Möwe spielt Brooks nicht mit Signifikaten und Signifikanten, sie geht der Frage nach, was es bedeutet, ein authentisches, im umfaßenden Sinn menschliches Leben zu führen, hineingeworfen in eine zunehmend inhumane Welt, die durch Migrationsströme definiert wird. Die Kunst liegt in diesem Roman darin, auf robuste Weise feinnervig und filigran zu sein. Es gibt in diesen Jahrgang einige Romane, die Handlungsstränge aufwendig auseinandernehmen, um sie dann kunstvoll wieder zusammenzuschreiben, weil sie in Creative-Writing-Kursen gelernt haben, daß was aus dem Zusammenhang gerissen wird, literarischer ist. Bei Brooks wirkt die Konstruktion nicht aufgesetzt, nie ist sie von dem Willen getragen, besonders literarisch sein zu wollen. Es ist eine gnadenlos genaue Studie, die den Schrecken evoziert, das Wissen um die Gewalt in der Welt, diese Prosa klingt zuweilen wie hypnotisiert und hat selber hypnotisierende Wirkung. Diese Autorin hat einen enormen Stil- und Kunstwillen, ihr Roman ist durchzogen von einem dichten Leitmotivgeflecht. Realistik und Symbolik gehen bezwingende Verbindungen ein. Oft schafft es Brooks, die Kulissen photografisch abzubilden, es sind eingeschobene Momentaufnahmen eines Stillstands, der im Durcheinander der Figuren sein Gegenstück findet. Ihr Erzählen hat etwas Konspiratives, man kennt die Figuren, und kennt sie doch nicht. Ein Unglück zwingt diese Typen dazu, Entscheidungen zu treffen und eine Identität zu wählen. Der Leser befindet sich einen Flügelschlag zwischen Trauma und Traum, und zwischen den Worten lauert der Tod. Es ist eine nachvollzogene Trauerarbeit, in dem der Tod ein steter Begleiter ist. Ihre Erzählungen und nicht zuletzt ihr Roman Der Flügelschlag einer Möwe, reflektieren auf einer Sub-Ebene auch den Umbau einer Arbeitswelt, die immer mehr Flexibilität verlangt. Es zeigt sich, wie wichtig die existenzialistischen Hinterlassenschaften sind und man sich wieder um Freiheit, Unaufrichtigkeit und Solidarität bemühen muss.

 

http://www.editiondaslabor.de/blog/?p=41032