Textprobe

Auszug aus dem Roman
Der Garten der Geschwister                         
von Patricia Brooks

I.
Vor zwei Stunden hatten sie die Stadt verlassen. Richard lenkte den grauen Toyota durch die Nacht. Er fuhr ruhig und ohne Hast. Sie waren in diesem Augenblick in Sicherheit, in Sicherheit vor der Vergangenheit und vor der Zukunft. Seine Hände umfassten locker das Lenkrad, seine Haltung war entspannt. Er genoss diese Nachtfahrt überland, genoss das Wissen, etwas hinter sich gelassen zu haben und etwas Neues zu beginnen. Eine magische Zeitspanne, eine geistige Freiheit, in der alles offen, alles möglich war. Gloria saß in den Beifahrersitz gekauert und blickte unverwandt aus dem Fenster. Der Lichtkegel der Autoscheinwerfer erhellte einen Ausschnitt der Straße und skizzierte die Idee einer gespenstischen Landschaft. Die Dörfer, durch die sie fuhren, schliefen tief und fest. Richard hatte mit Absicht kleine Landstraßen abseits der großen Schnellstraßen und Autobahnen gewählt. Er hörte Musik aus dem Autoradio und rauchte. Sie sprachen nicht miteinander. Es gab in diesem Augenblick nichts zu sagen, nichts was neu gewesen wäre. Gloria lehnte den Kopf zurück, schloss für ein paar Sekunden erschöpft die Augen. Sie fühlte sich elend, jeder Muskel ihres Körpers war verspannt. Ihr Bein schmerzte, ein glühender, peinigender Schmerz, der sich von den Lendenwirbeln bis zur Kniekehle zog. Das alte, schlummernde Leiden, das immer dann erwachte, wenn sie sich überanstrengte oder aufregte. Sie unterdrückte ein Seufzen. Aber Richard wusste es ohnehin. Er wusste es immer. Richard warf den Stummel seiner Zigarette aus dem Fenster und legte seine Hand auf ihren Schenkel. Er sah sie nicht an, schob nur den Saum ihres Rockes ein wenig hoch. Sie spürte wie die Wärme seiner Handflächen durch den dünnen Kunstfaserstoff ihres Rockes und ihrer seidigen Strümpfe sickerte, und sie fröstelte. Sie trug immer noch die Uniform der Versicherungsgesellschaft für die sie, bis vor wenigen Stunden, gearbeitet hatte. Taubenblaues Kostüm mit pfirsichfarbener Bluse. Es waren die Farben der Gesellschaft, die sie nun schon fast zwei Jahre lang auf jedem Briefpapier, jedem Prospekt, jeder Versicherungskarte in den Händen gehalten hatte. Sie hätte weinen mögen. Am liebsten hätte sie Richards Hand fortgeschoben, fort von ihrem Körper, ihren Gedanken. Aber sie ließ es bleiben. Es war nicht gut Richard jetzt zu verärgern. Sie mochte es nicht, wie er ihr Bein, ihren Schmerz in Besitz nahm, und doch war in dieser Geste auch etwas Tröstliches. Ein Trost, der den Widerwillen nicht aufhob, sondern sich mit ihm verbündete und sie in jene Pattstellung zwang, in der Richard immer seinen Willen und seine Absichten durchsetzte.
-Versuch zu schlafen.
Sie nickte, ohne ihn anzusehen. Er löste die Hand von ihrem Schenkel, langte über die Lehne seines Sitzes auf die Rückbank und holte seine Jacke hervor. Fürsorglich stopfte er sie ihr auf die Schulter, so dass sie wie ein Kissen zwischen ihrem Kopf und dem Seitenfenster steckte. Gloria klappte die Schöße ihres Mantels über die Knie und zog die Revers mit gekreuzten Armen vor ihrer Brust zusammen. Richard schaltete die Heizung eine Stufe höher und drehte die Lautstärke der Musik zurück. Es war nicht das erste Mal, dass sie einen Ort, einen Abschnitt ihres Lebens, eine ausgedachte Identität hinter sich gelassen hatten. Und es würde nicht das letzte Mal sein. Die Abstände wurden kürzer. Aber welche Rolle spielte schon das Maß der Zeit? Es setzte einen mathematischen Anfangs- und Endpunkt, aber es war kein Ort, um darin heimisch zu werden. Nicht für Richard, nicht für sie. Das dumpfe, monotone Dröhnen des Gebläses und der Gesang einer klaren, sehsüchtigen Frauenstimme aus dem Autoradio hoben Gloria auf und trugen sie fort.

Als  Gloria erwachte war der Morgen angebrochen. Hell und strahlend erstreckte sich die Landschaft vor ihren Augen, braune Felder in Winterruhe, lose gestreute Waldgruppen, kleine Dörfer im Glanz einer kräftigen Morgensonne. Es war Februar und ein blitzendes Versprechen von Frühling lag über diesem Morgen. Dennoch verspürte sie keinerlei Freude daran. Ihre Gedanken und Gefühle waren taub und benommen. Sie streckte den Rücken, strich sich über das Bein.
Richard beobachtete sie von der Seite und lächelte.
- Geht es dir besser?
Sein Lächeln war warm und voll Anteilnahme. Aber seine Augen waren so kalt und frisch wie das Blau des Himmels.
Gloria zuckte mit den Schultern.
- Irgendwann muss damit Schluss sein. Ich halte das nicht aus, es macht mich krank.
- Du hast immer noch Schmerzen, nicht wahr?
- Ja. Aber es sind nicht die Schmerzen, die mich krank machen.
- In ein paar Tagen sind wir weit von all dem fort. Dann ist auch alles vergessen. Wir suchen uns einen schönen Ort und fangen neu an. Wir können tun und lassen, was wir wollen.
- Für wie lange? Und wozu? Es hat überhaupt keinen Grund gegeben, dass wir fort mussten.
- Es ist dir nicht gut gegangen.
- Mir ist es gut gegangen! Bis gestern am Abend ist es mir sehr gut gegangen!
- Gloria, du sollst dich nicht aufregen.
- Ich rege mich aber auf.
Sie hob die Hände und ließ die Handflächen auf ihre Schenkel klatschen.
- Wieso sollte ich mich nicht aufregen?
- Nimm eine Tablette, sagte Richard, das hilft.
Sie hasste dieses ruhige, besorgte, geduldige Gesicht, das er ihr entgegenhielt. Wie immer wenn er über Tabletten sprach.
- Gegen was? Gegen die Schmerzen? Gegen die Angst? Gegen den Rest der Welt?
Er zündete sich eine Zigarette an und schwieg. An der Art wie er den Rauch tief in seine Lungen sog und ungeduldig in einem Schwall wieder ausstieß, erkannte sie, dass er verstimmt war. Sie waren schon so lange zusammen, dass sie voreinander nichts verbergen und nichts geheim halten konnten. Dennoch gab es Dinge, die sie nicht verstand, nicht bei Richard und nicht bei sich selbst. Es waren die unsichtbaren Dinge, die hinter ihren Worten und Gesten lauerten. Das machte sie wütend auf ihn, noch wütender, als sie sowieso schon war. Es war seine Schuld, dass sie jetzt im Auto saßen und wieder einmal Hals über Kopf alles aufgeben hatten müssen. Und doch waren sie auf einander angewiesen. Immer und jetzt besonders. Sie war zornig, aber es war ein schlechter Zeitpunkt um zu streiten.
- Tut mir Leid, sagte sie einlenkend, ich bin einfach nervös.
- Du bist erschöpft, du hast nicht genug geschlafen.
Versöhnlich griff Richard den Faden auf, den sie ihm hinhielt.
- Wir brauchen Benzin. An der nächsten Tankstelle werden wir halten, und dann könnten wir dort frühstücken.
Gloria hatte keinen Hunger, verspürte keinen Wunsch nach Essen, aber da er "frühstücken" sagte, dachte sie an Kaffee und sehnte sich danach. Sie war durstig, ihre Zunge klebte dick am Gaumen.
- Haben wir Wasser mit?
- Ich weiß nicht. Sieh nach.
Sie beugte sich vor und tastete mit der Hand über den kurzen Flor des Bodenbelags, fischte eine Plastikflasche mit Mineralwasser unter ihrem Sitz hervor. Sie trank in großen, hastigen Schlucken. Das Wasser schmeckte schal und alt, aber es löste den bitteren, klebrigen Belag in ihrem Mund, spülte ihn fort. Sie hielt Richard die Flasche hin.
- Möchtest du auch?
Er schüttelte den Kopf. Also kippte sie den Rest in ihren Mund, schraubte die Flasche zu und warf sie auf den Rücksitz. Für einen Augenblick fühlte sie sich besser. Für einen Augenblick überkam sie die Erinnerung innerer Ruhe, die aus körperlicher Zufriedenheit entstand. Als Richard die Zigarette im Aschenbecher neben ihrem Knie ausdrückte, entdeckte sie einen feuerroten Striemen, der von der Wurzel des Daumens quer über seine Handrücken lief.
- Du hast deine Hand verletzt, sagte sie.
- Ach, ist nicht der Rede wert.
- Eine Brandwunde, stellte sie fest.
- Nein. Ich habe mir die Hand eingeklemmt, als ich unsere Sachen in den Wagen gepackt habe.
Gloria glaubte kein Wort davon.

Sie hielten Ausschau nach einer Tankstelle. Die Landschaft war dünn besiedelt, ab und zu durchquerten sie Dörfer, deren Bewohner für sie unsichtbar blieben. Die Gegend war menschenscheu. Der einzige Gasthof, den sie sahen, hatte geschlossen. Die Straße zog sich in leichten Kurven über Wald und Wiesenhügel. Sie gehörte ihnen alleine. Aber nirgends entdeckten sie eine Tankstelle, nur ab und zu einen alleinstehenden Hof, eingebettet in der Eintönigkeit der Landschaft. Abweisend und verschlossen. Diese Höfe sahen unbewohnt aus. Der Zeiger der Benzinanzeige sank in den roten Bereich, das Warnlämpchen leuchtete auf. Gloria spürte Panik hochsteigen. Ein dünner Film von Schweiß überzog ihre Haut. Der Stoff der Bluse klebte nass in ihren Achselhöhlen. Es blieben ihnen also noch fünfzehn, zwanzig Kilometer zu fahren. Und dann?
- Da! sagte Richard unvermittelt.
Sie folgte mit ihrem Blick seinem Finger. Rechts von der Straße führte ein Weg durch das dürre Gestrüpp von Ästen zu einem Haus.
- Wir werden es hier versuchen. Es ist unsere letzte Chance. Sonst müssen wir zu Fuß weiter.
Richard bog von der Straße in den Weg ein, der nahtlos von dem Stück Wald, das sie durchquerten, in einen verwilderten Garten überlief. Eine grünbraune, winterliche Wiese mit kahlen Bäumen und struppigem Buschwerk erstreckte sich bis zu einem alten Haus. Auf einer Teppichklopfstange hing an halbverrotteten Seilen eine alte Kinderschaukel. Unmittelbar vor dem Haus war ein rechteckiges Schwimmbecken mit wasserblau gestrichenen Wänden in die Erde eingelassen, darum herum lief, wie der Rahmen eines Bildes, ein zwei bis drei Meter breiter, makelloser Betonweg. Das einzig Makellose an diesem Anwesen. Das alte Landhaus trug Anzeichen von Verfall. Der hellgraue Verputz der Fassade war rissig und an manchen Stellen abgeblättert, die Fensterrahmen wirkten verzogen und der Lack war gesprungen. Aber das Haus war bewohnt. Zwei der Fenster im ersten Stock standen, wie ein Augenpaar, sperrangelweit geöffnet. Der Kies knirschte unter den Rädern des Toyota. Richard stellte den Wagen ein paar Schritte vor dem Haus ab. Sie stiegen aus. Gloria streckte sich. Es war ungewöhnlich warm für einen Februartag. Die milde, frühlingshafte Luft legte sich wie Seide auf ihr Gesicht.
 
II.
Richard klopfte an das Tor. Oben am linken Fenster erschien der Kopf eines halbwüchsigen Mädchens, ihr Haar war blond und fiel ihr ins Gesicht, als sie sich aus dem Fenster beugte und zu ihnen herabsah.
- Was gibt es? fragte sie unwirsch.
- Wir haben kein Benzin, sagte Richard.
Das Mädchen verzog das Gesicht.
- Ja und? Was soll ich da machen?
Richard hatte den Kopf nach hinten geneigt und beschirmte mit der Hand seine Augen.
- Vielleicht kannst du uns sagen, wo wir Benzin bekommen können.
Er lächelte liebenswürdig und unverschämt.
- Nein kann ich nicht.
- Kannst du vielleicht einen Augenblick zu uns herunterkommen?
Das Mädchen seufzte gequält.
- Wenn es unbedingt sein muss.
Ihr Kopf verschwand aus dem Fensterausschnitt, kurz darauf stand sie in der Tür. Sie war dreizehn oder vierzehn, das Haar reichte ihr bis zur Schulter, sie trug Shorts und einen kurzen beigen Baumwollpullover, der zweifingerbreit ihren nackten Bauch freigab. Oberhalb ihres Nabels steckte eine kleine silberne Kugel in ihrer Haut. Sie musterte Gloria und Richard unverhohlen und ohne Sympathie.
- Was wollt ihr?
- Sind deine Eltern zu Hause? fragte Richard.
- Nein, nur der Kleine und ich.
- Wir brauchen Benzin. Gibt es hier in der Nähe eine Tankstelle?
- Glaube ich nicht. Es ist mir jedenfalls noch nicht aufgefallen.
- Habt ihr vielleicht Benzin im Haus?
- Benzin? Wozu sollten wir Benzin im Haus haben?
Sie schien die Frage für völlig idiotisch zu halten.
- Oder weißt du wo wir welches bekommen könnten?
- Keine Ahnung.
Sie lehnte mit verschränkten Armen in der Tür und zuckte ungeduldig mit den Schultern.
- Wie weit ist es zum nächsten Nachbarn? fragte Richard.
- Wir haben keine Nachbarn.
- Hör zu, das Problem ist, dass unser Tank so gut wie leer ist. Und ohne Benzin können wir nicht weiterfahren. Wir brauchen eure Hilfe. Wir sitzen hier sozusagen fest.
Dieser Gedanke gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie verdrehte die Augen, die Aussicht, Richard und Gloria hier im Haus zu haben, war das letzte, was ihr noch gefehlt hatte.
- Na ja. Vielleicht kann euch mein Bruder weiterhelfen, der weiß in solchen Sachen eher Bescheid als ich. Aber er schläft noch. Wenn ihr wollt, könnt ihr ja auf ihn warten. Da hinten im Schuppen sind Gartenstühle.
Sie trat einen Schritt aus der Tür und deutete mit spitzem Zeigefinger nach rechts.
- Nehmt euch zwei Stühle und setzt euch hier vor dem Haus in die Sonne. Da ist es warm, und ich kann euch im Auge behalten.
Sie machte auf dem Absatz kehrt, ohne ihre Zustimmung oder Ablehnung abzuwarten, und warf die Haustür hinter sich zu.
- Komm wir fahren. Wir versuchen es woanders, sagte Gloria.
Sie wandte sich zum Gehen, aber Richard hielt sie auf.
- Das hat keinen Sinn. Mit dem Rest Benzin, den wir noch haben, kommen wir nirgendwo mehr hin. Wir werden wohl oder übel hier bleiben und auf ihren Bruder warten müssen.
Er ging zum Schuppen, holte zwei Liegestühle, klappte sie auf und stellte sie nebeneinander, mit dem Rücken zur Hauswand. Es waren alte Liegestühle aus Holz mit einer bunten, längsgestreiften Segeltuchbespannung, deren Farben von der Sonne ausgeblichen waren. Richard zog die Jacke aus und warf sie über die Lehne.
- Ich werde einmal fragen, ob wir etwas zu essen bekommen können.
- Sie hat nicht gerade so ausgesehen, als ob sie erpicht darauf wäre, uns hier zu bewirten, entgegnete Gloria.
- Aber sie wird es mir nicht abschlagen.
Nein, natürlich würde das Mädchen Richards Bitte nicht abschlagen. Niemand schlug Richard etwas ab, wenn er es darauf anlegte, etwas zu wollen. Keiner wusste das besser als sie. In all den Jahren war es ihr nie gelungen, Richard etwas zu verwehren. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Aber Richard hatte ihren Widerstand nie zugelassen. Sie hatte in all den Jahren eine kleine verkrüppelte Armee an geschlagenen Widerständen in ihrer Brust versammelt, eine hoffnungslose Armee, die sich in hoffnungslosen Momenten hoffnungslos zusammenrottete. Feindselig und unfähig, voll ersticktem Groll. So wie jetzt. Aber sie würde niemals eine Schlacht gewinnen. Auch das Mädchen würde sich nicht gegen Richards Wünsche wehren. Niemand tat es.

Die Luft war dick und süß wie Honig. Es roch nach warmem moosigen Erdboden und vermoderndem Laub. Gloria hatte sich in den Liegestuhl gesetzt. Bequem war es nicht, und die Sonne brannte auf ihrem Gesicht. Ihr Herz klopfte schnell, es schlug um sich, wie ein Ertrinkender, der aus der Tiefe eines Gewässers an die Oberfläche aufzutauchen versucht. Ein leichtes Gefühl von Schwindel erfasste sie und verschmolz mit dem Licht und der Wärme der Sonne, die hoch und beinahe sommerlich am Februarhimmel stand. Es musste schon längst Mittag sein. Richard trat aus dem Haus, er hatte zwei Flaschen Cola, Hals an Hals zwischen die Finger der einen Hand geklemmt, und in der anderen Hand balancierte er drei in Plastikfolie verpackte Fertigsandwichs. Er stellte die Flaschen zwischen ihren Liegestühlen am Boden ab und legte ein Sandwich in Glorias Schoß. Sie lächelte schwach. Richard setzte sich neben sie, riss die Verpackung auf und biss in die übereinandergelegten, rindenlosen Weißbrotdreiecke, zwischen denen das grünes Säumchen eines Salatblattes hervorlugte. Er aß mit dem gesunden Appetit der Unschuldigen und Gerechten. Wo um alles in der Welt er diese Unverfrorenheit hernahm! Gloria beneidete ihn darum in diesem Moment.
- Iss, forderte er sie auf, es wird dir gut tun.
Gehorsam schlitzte sie mit dem Fingernagel die Verpackung auf. Es hatte keinen Sinn darüber zu diskutieren. Sie fühlte sich zu schwach für eine Auseinandersetzung. Es war einfacher zu essen, als darüber zu streiten. Kalt und leblos fühlte sich das Brot an, an dessen Schnittstellen eine Krem aus Majonäse und Thunfisch herauszuquellen drohte. Gloria verzog unwillkürlich das Gesicht. Richard übersah es. Oder er tat zumindest so. Es kostete sie Überwindung in das Brot zu beißen, aber danach stellte sie fest, dass das Essen ihr weniger Mühe bereitete, als sie befürchtet hatte. Im Gegenteil, das betäubte Bedürfnis nach Nahrung war mit dem ersten Bissen wieder erwacht. Immerhin hatte sie seit ungefähr vierundzwanzig Stunden nichts gegessen. Ein gemischter Salat und ein Ei zum Mittagessen am Vortag in der Kantine der Versicherungsgesellschaft, war ihre letzte Mahlzeit gewesen. Sie hatte auf das gewohnte Menü mit Suppe und Hauptspeise verzichtet, obwohl sie es gerne mochte. Sie hatte ihren Hunger aufsparen wollen, weil sie abends zum Essen verabredet gewesen war. Mit Sten. Mit Sten, der nicht wusste, weshalb sie nicht gekommen war, und es nie erfahren würde. Sie durfte nicht an Sten denken, nicht jetzt. Richard zerknüllte die leere Verpackung und ließ sie auf den Boden fallen. Er fischte die Jacke hinter seinem Rücken hervor, suchte nach Zigaretten. In der Sonne glänzte sein braunes, gelocktes Haar wie Gold. Viel zu schön für einen Mann, und er wusste es nicht einmal zu schätzen. Er hatte immer noch das gleiche dichte, leuchtende Haar wie früher. Er war vierunddreißig, nicht alt, aber in einem Alter, in dem der Glanz der Jugend verblasste. Bei Männern begann das Haar meist auszudünnen und die Stirn an den Ecken tief in den Haaransatz hineinzuwandern. Das Haar altert zuerst. Glorias Haar war schon vor der Zeit gealtert. Sie war siebzehn gewesen, als sie das erste graue Haar entdeckt hatte. Mit Staunen hatte sie es herausgepickt aus dem sanften Rieseln eines schattigen Meeres aschblonden Haares. Zu dieser Zeit war das warme Kinderblond bereits nachgedunkelt, wie von Grünspan überzogen. Ein irrtümliches Missgeschick, hatte sie über dieses erste graue Haar zuerst gedacht. Aber das Missgeschick hatte sich fortgesetzt, war nicht aufzuhalten gewesen, und die grauen Haare hatten sich immer weiter in ihr Blond eingeschlichen. Der Unfall, hatte Richard gesagt, es war der Unfall, so etwas kommt vor. Sie hatte sich nicht vorstellen können, dass Richard wirklich daran glaubte, dass ein Schock die Haare beinahe über Nacht grau werden ließ. Das war so eine Geschichte, die er ihr erzählte, damit sie nicht weiter darüber nachgrübelte. Mach dir keine Gedanken, du bist schön hatte er ihr immer wieder versichert. Und doch war er es gewesen, der ihr angeraten hatte, ihr Haar zu färben. Seit sie zwanzig war, seit sechzehn Jahren, färbte sie ihr Haar, versuchte chemisch jenes Blond wiederherzustellen, das ihr abhanden gekommen war. Sie hatte keine Ahnung wie ihr Haar jetzt in seinem naturbelassenem Zustand aussehen mochte, und sie wollte das auch gar nicht wissen. Es deprimierte sie auch so schon, wie es war, dünn und kraftlos, in seiner gelogenen Honigfarbe. Der Anblick von Richards Haar machte sie immer neidisch. Er hatte seinen Pullover ausgezogen, die Ärmel von seinem Hemd bis zu den Ellbogen aufgekrempelt und rauchte. Die Haut auf seinen Unterarmen war sandfarben, mit wenigen, dunklen Härchen versehen. Er roch nach Salz und Nikotin und dem Tweedstoff seiner Jacke. Glorias eigener Geruch, der ihr aus dem Ausschnitt ihrer Bluse in die Nase stieg, erinnerte sie an Muscheln und Brackwasser, der abgestandene Geruch von Angst. Die Sonne brannte auf ihren Körper herab. Wenn man die Augen schloss, konnte man meinen es wäre Mai oder Juni, einer jener frühen Sommertage. Die Wärme nahm sich unnatürlich aus in der winterlich abgestorbenen, nackten Landschaft dieses Gartens. Apokalyptisch, dachte Gloria, sie schwitzte und doch konnte sie sich nicht richtig erwärmen. Ein schattiger, kühler Unterton saß ihr in den Knochen und ließ sie frösteln. Sie hatte nicht genug geschlafen, sie war übernächtig. Das bekam ihr nicht, und alles andere bekam ihr schon gar nicht.

Das Mädchen trat aus der Tür und setzte sich auf die Schwelle. Sie schlüpfte ihre Füße in ein dunkel glänzendes Paar Skaters. Mit einem skeptischen, seitlichen Blick nahm sie Richards und Glorias Anwesenheit zur Kenntnis. Diesem Blick war nicht zu entnehmen, ob sie zufrieden war, dass sie hier geduldig saßen und warteten, ohne sie weiter zu belästigen, oder ob sie gewünscht hätte, sie wären ohne Aufhebens, einfach wieder verschwunden. Sie beachtete sie auch nicht weiter. Während sie mit steifen, klackenden  Schritten zu dem Schwimmbecken stakste, steckte sie die Ohrenstöpsel eines Discman in die Ohren. Sobald sie den Betonstreifen, der das Schwimmbecken säumte, erreicht hatte, wurden ihre Bewegungen weich und fließend. Sie war eine geübte Läuferin. Ihre Beine waren kraftvoll und durchtrainiert, ihr Lauf geschmeidig und leicht. Scheinbar mühelos glitt sie dahin, wie eine Tänzerin auf Eis. Sie trug immer noch Shorts und ein weißes T-Shirt, um die Hüften hatte sie lose die Ärmel eines dunkelblauen Sweaters geknotet. Das schulterlange Haar war mit einem roten Haargummi straff am Hinterkopf zu einem wippenden, pinselartigem Schwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht sah jetzt älter aus als zuvor, aber verletzlicher. Gloria fragte sich, ob das an der Frisur lag, oder an der Hingabe, mit der sie in ihrem Lauf versunken war. Das einzig lebendige in diesem Garten unter dieser ungewöhnlichen Februarsonne und dem Gezwitscher unsichtbarer Vögel, war das Mädchen. Richard und sie selbst zählten nicht, sie waren nicht lebendig, nicht in diesem Sinn. Sie waren Zaungäste am Rande eines fremden Lebensgartens. Ihre eigene Geschichte spielte ganz wo anders, unter anderen Bedingungen und anderen Gesetzen. Gloria sah auf ihre Armbanduhr, es war zwei Uhr Nachmittag. Allmählich wurde sie unruhig.
- Wo bleibt bloß ihr Bruder, es wird schön langsam Zeit, dass wir etwas unternehmen, sonst wird es  Abend, bevor wir von hier losfahren können.
- Er wird schon kommen.
Richard saß da, wohlig wie eine Katze in der Sonne, mit halbgeschlossenen Lidern und beobachtete amüsiert, wie das Mädchen ihre hypnotisierenden Kreise zog. Als hätten sie alle Zeit der Welt.
- Ich werde jetzt zu dem Mädchen gehen und ihr sagen, sie soll ihn wecken, falls er immer noch schläft.
- Du siehst doch, sie ist beschäftigt.
- Das ist mir egal. Wir können nicht ewig warten.
- Warum nicht?
Richards Gelassenheit war fehl am Platz und brachte sie auf.
- Man wird bereits nach uns suchen!
- Keiner wird uns suchen, geschweige denn hier finden.
Gloria schnalzte ungehalten mit der Zunge, ein hoffnungsloser Laut des Ärgers.
- Vertrau mir, Gloria.
Richards Stimme war so sanft wie seine Hand, die er auf ihren Arm legte. Eine Beschwörungsformel. Die Verletzung auf seinem Handrücken leuchtete roh und wund im Licht der Sonne. Es war eine Brandwunde, dessen war Gloria sich nun ganz sicher, aber sie sagte es nicht noch einmal. Sie entwand ihm ihren Arm. Das Mädchen hatte den gleichförmigen Rhythmus ihres Laufes unterbrochen. Die Beine parallel gestellt, rollte sie aus, streckte ihren Oberkörper, ihre Arme, ihr Kinn in die Höhe, andächtig, als schüttete der Himmel seinen Segen über sie aus. Fromm und selbstvergessen war der Ausdruck ihrer Körperhaltung und ihres blanken Gesichtes. Ein Ausdruck, dachte Gloria, der täuschte, dahinter lag die beinharte Kalkulation, dass man sich seinen Anteil am Segen mit dem Himmel durchaus aushandeln konnte, solange man sich im Zustand der Gnade von ungebrochener Kraft und Selbstvertrauen befand. Es war kein vorsätzlicher Schwindel, bloß eine Selbsttäuschung mit unabsehbarem Risiko. Denn war dieser Zustand einmal gebrochen, war es auch mit dem Segen vorbei. Auch das wusste Gloria, hatte es selbst erfahren, früher, endgültiger und unmissverständlicher als andere. Der Himmel machte kein Geschäft mit den Schwachen. Das Mädchen wusste das noch nicht. Sie beugte ihren Oberkörper sanft nach vor, bis der Kopf vor ihren Knien baumelte, eine Reverenz, die sie einem geheimnisvollen Gott erwies. Langsam richtete sie sich wieder auf, streckte sich, schüttelte ihre Beine aus, lockerte die Muskeln. Ein  Augenblick unsichtbarer Stille umgab sie, aus dem sie einem scheinbar plötzlichen Impuls folgend, heraustauchte und mit energischen Schlittschuhschritten erneut zum Laufen ansetzte. Aber im Gegensatz zu der mechanischen Gleichförmigkeit ihres vorherigen Laufes war nun eine Zielgerichtetheit hinzugekommen. Als sie genügend Schwung gewonnen hatte, breitete sie die Arme wie Flügel aus, faltete sie mit leicht gespreizten Ellbogen konisch über ihrem Kopf und drehte sich um ihre eigene Achse, einmal, zweimal.
- Die Kür, und nicht die Pflicht, kommentierte Richard.
Er hatte die Zigarette zwischen den Lippen geklemmt, und die Gestalt des Mädchens verschwamm im Rauch, der zwischen seinen Worten von seinen Lippen aufstieg. Richards Sicht lag immer im Focus auf sich selbst. Was die Dinge selbst darstellten, sah er nicht.
- Was verstehst du schon davon?
Glorias Stimme klang gereizt. Das Mädchen senkte die Arme, ließ die Drehungen ausklingen und begann rückwärts laufend Achterschleifen zu ziehen.
- Frauen in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihr Körper in Szene zu setzen.
- Sie ist keine Frau, sie ist ein Kind! schnappte Gloria zurück.
Richards Lächeln wurde breit und anzüglich.
- Na gut. Weibliche Kinder in ihrem Alter lassen keine Gelegenheit aus, ihren Körper in Szene zu setzen.
- Was meist du damit?
- Das was ich sage.
- Es ist eine Anspielung auf mich, nicht wahr?
- Wie kommst du drauf, was hast du mit ihr zu tun?
- Sie ist wie ich.
- Zum Teufel Gloria, hör auf immer alles auf dich zu beziehen.
- Ich war auch einmal jung. Und ich habe meinen Körper sportlich in Szene gesetzt, wie du das nennst. Hast du das vergessen?
- Nein das habe ich nicht.
Ärgerlich schnippte Richard den Stummel seiner zu Ende gerauchten Zigarette auf den Boden und zermalmte die Glut mit dem Absatz seines Stielfels.
- Aber ich habe auch nicht daran gedacht. Ich habe nicht ständig jedes beliebige Detail deiner Vergangenheit im Kopf parat, um es dir in böser Absicht vorzusetzen.
- Es ist nicht ein beliebiges Detail meiner Vergangenheit. Es ist die einzig glückliche Erinnerung, die ich an meine Jugend habe.
Glorias Hände lagen in ihrem Schoß zerbrechlich und schlaff, wie Vögelchen mit gebrochenem Genick. Sie spürte wie das Unglücklichsein ihren Ärger unterwanderte und sie lähmte, in jenem langgezogenen Atem, in dem es keine Zeit und keine Erlösung gab.
- Das weiß ich.
Richard beugte sich zu ihr herüber, packte sie an der Schulter, zwang sie ihn anzusehen.
- Und gerade deshalb solltest du es auch in guter und unversehrter Erinnerung behalten!
Seine Hände hielten sie fest, sein Blick bohrte sich in ihre Augen, als wollte er durch ihre Pupillen in ihr Gehirn eindringen, um alle schlechten Gedanken darin auszulöschen und seine eigene Sichtweise darüber zu legen. Wie oft hatte er das schon versucht. Sie kannte das zur Genüge, aber es würde ihm nicht gelingen. Sie schloss die Augen. Abrupt ließ er sie los und erhob sich. Ihr Unglücklichsein machte Richard meistens böse. Es war die einzige Waffe, die sie gegen ihn besaß. Eine Waffe, die gegen sie selbst losging. Aber die Erinnerung an ihre Kindheit war auch eine Wunde. Vor allem eine Wunde. Das war kein Ort, den man im Schatzkästchen seines Herzens bewahrte, um ihn gelegentlich aufzusuchen, wie Richard sich das vielleicht vorstellte. Richard würde es für sich selbst so halten. Er kannte keinen Schmerz, und selbst wenn er ihn kennen würde, würde er ihn fortwischen, ausradieren. Es war leicht das Bedauern über einen verlorenen Zustand zu verachten, wenn man selbst nie etwas verloren hat, das man bedauerte. In gewissem Maß konnte sie Richard sogar verstehen.

III.
Es lag eine trügerische Stimmung über diesem Nachmittag, unscharf und überdeutlich zugleich. Die Szenerie kam Gloria unwirklich vor, der verwilderte Garten  mit dem alten Landhaus, dem für die Jahreszeit viel zu mildem Wetter und dem Mädchen, das wie eine verwunschene Prinzessin unermüdlich seine Abfolge von Figuren lief. Gloria hatte keine Lust ihr dabei zusehen, es deprimierte sie. Und doch konnte sie nicht anders, konnte ihre Augen nicht lassen von dem Körper des Mädchens, der träumerisch mit der Choreographie ihres Laufes verschmolz. Sie wusste wie sich das anfühlte. Sie selbst hatte wettkampfmäßig Sport betrieben, nicht das Laufen auf Rollschuhen, das Laufen auf roten Sandbahnen, das Weitspringen in Sandkästen, das Hochspringen über quergesteckte Stangen. Sie hatte einige gute Platzierungen und sogar einige Pokale bei verschiedenen Leichtathletik-Jugendmeisterschaften errungen. Körperliche Bewegung, egal wie anstrengend sie auch gewesen war, hatte sie immer als Befreiung empfunden. Es war ihr immer so vorgekommen, als würde sie eine dunkle, verborgene Kraft aus sich herausarbeiten und in etwas Lichtes, Fassbares hineinarbeiten, Tempo, Weite, Höhe. Selbst die Mühen und Anstrengungen des Trainings hatte sie kaum als Belastung empfunden. Kein Vergleich zu den verbissenen, freudlosen Anstrengungen, die sie später aufgewendet hatte, um ihrem Körper die allersimpelsten Fähigkeiten wieder abzuringen. Gloria seufzte. Das Sitzen und Warten ermüdete sie und gleichzeitig machte es sie nervös. Die dünne Schale guten Willens, hinter der sich ihre Ungeduld verbarg, bekam allmählich Sprünge. Nur die Wärme und das helle Licht der Sonne hielt sie noch zusammen. Sie rückte mit dem Liegestuhl den Lichtinseln nach, die durch den flachen Winkel der Nachmittagswintersonne davonzuschwimmen begannen.
- Möchtest du Kaffee?
Das Mädchen stand mit durchgestreckten Beinen in ihren Skaters vor ihr und blickte auf sie hinab. Ihr Gesicht war rosig erhitzt, ihr Körper dampfte Feuchtigkeit und Hitze aus, wie ein feuchter, heißer Stein. Sie hob die Arme und zupfte das Band aus ihrem Haar. Ihre Achseln waren rasiert, nasse Schweißflecken bildeten darunter dunkle Seen auf ihrem T-Shirt. Sie verströmte einen Duft nach reifen, gedünsteten Himbeeren. Wahrscheinlich benutzte sie wie die meisten Mädchen ihres Alters ein nach Früchten riechendes Deodorant. Das Mädchen brauchte eine Dusche, dachte Gloria, aber sie selbst brauchte noch viel dringender Wasser und Seife. Ihr Geruch erinnerte an Himbeeren, die in Essig eingelegt waren.
- Ja gerne, antwortete Gloria, kann ich dir dabei helfen.
- Wenn du willst.
Gloria erhob sich. Das Mädchen ging voran, an der Tür stützte sie sich gegen den Pfosten, klappte schnalzend die Schnallen ihrer Schuhe auf und zog sie aus. Glorias Glieder waren steif und schwer, das rechte Bein fühlte sich taub an und gab unter der Belastung ihres Gewichtes nach, so dass sie es beim Gehen ein wenig nachzog. Das Mädchen bemerkte ihr Hinken.
 - Was ist mit deinem Bein?
- Oh, nichts Schlimmes. Eine alte Verletzung.
Das Mädchen nickte verständnisvoll, aber stellte keine weiteren Fragen. Sie ging mit leichten, wippenden Schritten ein Stück durch den dunklen Flur und bog an der ersten Tür rechts in die Küche ab. Gloria folgte ihr. Die Küche war geräumig und düster, trotz der zwei großen Doppelflügelfenster, die in den Garten blickten. Jahrzehntelang hatten Küchendünste auf dem Mobiliar eine glanzlose Patina hinterlassen. Selbst die zwei Spülbecken aus weißem Email wiesen dicke gelbbraune Verfärbungen auf. Spüle und Herd waren eingebaut in einer Zeile aus Unterschränken aus dunklem, abgegriffenem Holz. In der Mitte des Raumes stand ein langer, nussbrauner Tisch. Die Tischplatte war fleckig und klebrig. Unter dem Sammelsurium an benutzten Tellern, Tassen und Essensresten waren schwarze Spuren von Mäusekot verstreut. Gloria fand den Anblick unappetitlich. Es ekelte sie bei dem Gedanken hier Kaffee zu trinken. Sie hoffte nur, dass es wenigstens ein paar saubere Tassen gab. Das Mädchen stand mit dem Rücken zu Gloria, goss Wasser in die Kaffeemaschine und holte einen Papierfilter und eine Packung gemahlenen Kaffee aus dem Schrank.
- Wenn dich die Unordnung stört, kannst du den Tisch sauber machen, sagte sie ohne sich umzuwenden.
- Nein, sie stört mich nicht, log Gloria.    
Sie dachte nicht im Traum daran, hier aufzuräumen, sie hatte mit diesem Haus nichts zu schaffen.
- Du siehst aber nicht so aus, als ob es dir egal wäre, sagte das Mädchen anzüglich.
- Stimmt, bei mir zu Hause wäre es mir auch nicht egal. Aber hier...
- Hier bist zu Gast und du bist ein höflicher Gast.
Das Mädchen lächelte breit und machte sich daran zwei Tassen abzuspülen.
- Aber du brauchst in diesem Haus nicht so förmlich sein. Du kannst ruhig sagen, was du dir denkst.
- Würde das etwas ändern?
- Nein, wahrscheinlich nicht.    
Sie lachte, wischte sich mit dem Handrücken eine feine Haarsträhne aus dem Gesicht und stellte die tropfnassen Tassen auf den Tisch.
- Aber es ist weniger anstrengend, wenn man sich nicht zu verstellen braucht. Nimmst du Milch oder Zucker zum Kaffee?
- Beides bitte.
Gloria ging zum Fenster. Der Garten lag nun in Schatten getaucht, wie unter Wasser. Sie konnte Richard nirgendwo entdecken.
- Ich heiße Clarissa, hörte sie das Mädchen sagen.
- Und du?
Die Stimme des Mädchens erschien ihr mit einem Mal weich und vertraulich. Gloria drehte sich um.
- Gloria.
Sie sahen einander an, überrascht und beinahe ein wenig verlegen, als wäre durch die Preisgabe ihres Namens jene Distanz, die ohne Wohlwollen und ohne Abneigung auskam, verrückt. Das Mädchen schüttelte als erste die Befangenheit dieses Momentes ab.
- Da ist dein Kaffee, sagte sie.
Auf dem Tisch standen die Tassen, in die sie den Kaffee eingeschenkt hatte und eine angebrochene Milchpackung. Die Schale mit Zucker stellte sie dazu. Auch Clarissa hatte darauf verzichtet, den Tisch sauber zu machen, hatte lediglich die Unordnung ein wenig zur Seite geschoben. Gloria setzte sich zu ihr. Der Kaffee schmeckte gut. Er war stark und aromatisch. Sie mochte Kaffee.
- Du bist eine sehr gute Rollschuhläuferin, sagte Gloria anerkennend.
Sie hatte das Bedürfnis etwas Nettes zu sagen, als Gegenleistung für den Kaffee. Schließlich konnte Clarissa nichts dafür, dass Gloria hier festsaß und dass ein Aufruhr in ihrem Kopf tobte. Das war Richards Schuld, einzig und allein seine Schuld. Clarissa war ein hübsches Mädchen mit einem trainierten Körper und einer, für ihr Alter, sehr weiblichen Figur, schmale Taille, große, feste Brüste, muskulöse Beine. Ihr Gesicht war kindlich rund und ihre Augen, die ein wenig hervortraten, hatten eine Farbe, die Gloria nicht genau einordnen konnte, so ein irisierendes Flirren von Grün zwischen Tönen von hellem Braun und klarem Grau. Vielleicht war sie sogar ein nettes Mädchen. Gloria hatte nicht vor, es herauszufinden. Aber da es ohnehin nicht von Bedeutung war, war sie gewillt, fürs erste so zu tun als ob.
- Ich trainiere für die nächste Landesmeisterschaft.
- So etwas ähnliches habe ich mir gedacht.
Erstaunt hob Clarissa den Blick.
- Kennst du dich da aus?
- Oh nein. Nicht im Rollschuhlaufen. Ich wusste nicht einmal, dass es ein zugelassener Bewerb ist.
- Skaten, verbesserte Clarissa, das heißt Skaten.
- Meinetwegen Skaten, egal wie man es auch nennt,  ich sehe, wenn jemand etwas gut macht.
- Na ja. Da kann man sich auch täuschen.
Clarissa lächelte ein wenig herablassend und unbeeindruckt von dem Lob.
- Ich weiß wovon ich spreche. Ich habe selbst einmal Sport betrieben, entgegnete Gloria.
 - Wirklich!
Der Zweifel stand Clarissa ins Gesicht geschrieben.
- Für richtiges Training fehlen hier die Voraussetzungen. Was du gesehen hast ist nichts als eine kleine Übung für die Beweglichkeit, die Konzentration, um die Form und das Gefühl nicht zu verlieren. Für mehr taugt es nicht.
- Bedeutet dir der Sport sehr viel?
Clarissa zuckte mit den Schulter, nippte an der Tasse.
- Nein, nicht so sehr. Es ist eine Art von Unterhaltung, eine Beschäftigung. Hier gibt es sonst ja nicht viel anderes zu tun.
Sie trank ihren Kaffee aus und erhob sich, stellte die Tasse in die Spüle.
- Mir ist kalt. Ich zieh mir etwas anderes an.
Gloria sah auf ihre Armbanduhr. Es war vier Uhr.
- Wann glaubst du wird dein Bruder kommen?
- War er noch nicht da?
- Nein.
- Ich dachte, er wäre in der Zwischenzeit mit deinem Mann losgegangen, das Benzin zu besorgen.
- Er war noch nicht da. Wir warten immer noch.
- Und wo ist dann dein Mann?
- Ich weiß es nicht. Irgendwo im Garten, nehme ich an.
Clarissa runzelte argwöhnisch die Stirn. Gloria konnte nicht deuten, ob es sie störte, dass Richard sich auf eigene Faust, ohne zu fragen auf fremdem Besitz herumtrieb, oder ob sie sich fragte wo der Junge blieb.
- Ich werde einmal nach oben gehen und nach meinem Bruder sehen.

IV.
Gloria zog ihren Mantel an und machte sich daran, Richard im Garten zu suchen. Sie fand ihn vor dem Schuppen, ein Bein angewinkelt, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. Er rauchte. Irgendwann würde ihn das Rauchen umbringen. Aber das war jetzt nicht ihre Sorge.
- Wo warst du? fragte sie.
- Spazieren.
- Das ist nicht dein Ernst!
- Doch. Es ist schön hier.
Richard wandte ihr das Gesicht zu und lächelte.
- Mir gefällt diese Gegend hier, nichts als Wälder und Wiesen.
Hätte sie ihn nicht so gut gekannt, hätte sie gedacht, er sagte das bloß, um sie zu provozieren. Aber er liebte das Land, die Natur, vor allem wenn es einsam war, und es war ihm egal, in welcher prekären Situation sie sich befanden, er konnte das schlicht und einfach vergessen. Das machte sie wütend. Bevor sie sich entscheiden konnte, ob sie sich mit ihm darüber streiten oder es besser bleiben lassen sollte, vernahm sie die Stimme des Jungen.
- Hallo, tut mir leid, dass ihr warten musstet.
Gloria drehte sich um.
- Ich bin Phillip.
Der Junge kam aus dem Haus auf sie zu, zwei Schritte vor ihnen blieb er stehen, die Schultern leicht hochgezogen, die Hände so tief in die Hosentaschen gesteckt, als hielte er sich darin fest.
- Clarissa hat mir gesagt, dass ihr eine Autopanne habt, was kann ich für euch tun?
Sein Blick schwamm zwischen Richard und Gloria hin und her wie ein zappeliger Fisch. Das Haar des Jungen war schulterlang und von einem dunkleren Blond, als das seiner Schwester. Er war fast gleich groß wie Clarissa, aber dünner und zarter in seinem Körperbau. Sie sahen einander nicht direkt ähnlich, und doch erkannte man in der Form ihres Gesichtes, im Schnitt ihrer Augen, dass sie aus einer Familie stammten. Er war eindeutig jünger als Clarissa, nicht viel, zwei Jahre vielleicht. Und doch im Vergleich zu Clarissa, die von ihrem Aussehen und der Art, wie sie sich gab, fast erwachsen wirkte, erschien er noch wie ein Kind.
- Unser Tank ist leer. Wir brauchen Benzin, sagte Richard.
- Benzin?
Der Junge hob die Stimme ein wenig an. Vielleicht war es ein Ausdruck von Belustigung, vielleicht auch nur Ausdruck der Verwunderung über ihre Nachlässigkeit. Er schüttelte entschieden den Kopf.
- Dafür ist es heute zu spät. Ich muss mich jetzt um die Tauben kümmern. Morgen dann.
- Morgen? fragte Gloria fassungslos.
- Ja.
- Aber das ist unmöglich, das geht nicht! sagte sie.
Der Junge zuckte mit den Schultern.
- Ihr könnt hier übernachten, wenn ihr wollt.
Richard schnippte den Rest seiner Zigarette zu Boden.
- Ja. Warum eigentlich nicht!
Der Vorschlag schien ihm zu gefallen.
- Wird es euren Eltern recht sein? fragte er den Jungen.
- Ja sicher. Das geht schon in Ordnung.
- Aber das können wir nicht tun, wir müssen heute noch weiter, widersprach Gloria. Sie spürte wie ein halber Tag des Wartens sich in Nichts auflöste.
Richard legte seine Hände auf ihre Schultern.
- Ich habe letzte Nacht kein Auge zugemacht. Ich muss ein bisschen schlafen.
Der Druck seiner Finger ging ihr unter die Haut.
- Bitte Gloria!
Seine Stimme war so sanft wie das Streicheln seiner Hände, die an ihren Armen herabglitten. Sie sah, dass er müde war, sah die Erschöpfung auf seinem Gesicht. Seine Augen waren schmal und leicht gerötet, darüber konnte selbst das wirbelnde Blau seiner Iris nicht hinwegtäuschen. Sie schwieg. Richard erwartete ohnehin nicht, dass sie zustimmte, er setzte es voraus.
-  Ich hole noch unsere Sachen aus dem Auto, sagte er.
Gloria blickte ihm nach, wie er den Weg zum Auto einschlug. Sie erinnerte sich nicht daran, wann sie aufgehört hatte, ihm zu trauen. Der Garten begann im Schatten des späten Nachmittags zu erstarren. Es war schlagartig kühl geworden. Die Frühlingswärme des Tages war zu dünn und flüchtig gewesen, als dass sie es vermocht hätte, sich nachhaltig gegen die Jahreszeit durchzusetzen. Die Kälte durchdrang ihre Haut, ihr Fleisch. Sie war zu leicht angezogen. Die Uniformbluse der Versicherungsgesellschaft war gut für überheizte Büroräume. Sie wickelte sich in ihren Mantel. Aber auch der pflaumenblaue Wollstoff wärmte nicht ausreichend gegen die Kälte, die von außen wie von innen kam. Richard hatte ihr diesen Mantel gekauft. Er liebte die Farbe Blau, weil sie gut zu seinen Augen passte, und er mochte die toten Farben nicht, die Gloria gerne trug. Er fand, sie standen ihr nicht, machten sie blass und unscheinbar. Er hatte recht, Gloria konnte es selbst sehen, wenn sie sich im Spiegel betrachtete. Und trotzdem liebte sie diese Farben, das sandige Beige, das steinerne Grau, das erdige Braun, das stumpfe Rostrot, das gedämpfte Ziegelorange, sie gehörten zu ihr. Sie hatte sie immer getragen. Früher hatte ihre helle Haut, ihre haselnussbraunen Augen, ihr blondes Haar perfekt damit übereingestimmt und waren leuchtend zur Geltung gekommen. Heute verschwand sie in diesen Farben, ohne Konturen, ohne Kontraste. Trotzdem griff sie beim Kleiderkauf stets zu einer lehmfarbenen Bluse, einem kamelbraunen Rock, einem eierschalfarbenen Schal. Das strahlende Blau, das leuchtende Rot, das schillernde Grün gehörten anderen. Sie waren ihr zu laut, zu fordernd, auch wenn sie die stumpfe Blässe ihrer Haut und ihres Haares zu einem verzweifelten Leben erweckten, das reizvoll erscheinen mochte. Sie konnte den Mantel nicht sonderlich leiden. Sie trug ihn Richard zuliebe.
- Willst du meine Tauben sehen? fragte der Junge.
- Ich mache mir nichts aus Tauben.
- Aber ich möchte sie dir gerne zeigen.
- Warum?
- Nur so.
Er lächelte auf berechnende Weise scheu und liebenswürdig.
- Komm mit! Sie werden dir gefallen.
Gloria wollte die Tauben nicht sehen. Die Tauben am allerwenigsten. Aber sie wollte auch nicht hier im Garten herumstehen, oder in der Küche sitzen. Das einzige, was sie sich wünschte, war von hier fort zu kommen. Und daran war fürs Erste ohnehin nicht zu denken. Der Junge stand da und wartete. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, ihr die Tauben zu zeigen. Sie verstand nicht viel von Kindern, aber sie verstand, wenn jemand etwas von ihr wollte. Und sie wusste nicht recht, wie sie sich dagegen verwehren sollte.
- Gut, sagte sie also, gehen wir.
Sie folgte ihm ins Haus, die Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Das dunkel gebeizte alte Holz knirschte unter ihren Schritten. Es roch nach Moder und altem Mauerwerk. Ein Geruch, der wie ein feiner Schleier über dem ganzen Haus lag. Oben angelangt führte Phillip sie über den Flur.
- Das ist mein Zimmer, sagte er im Vorbeigehen auf eine geschlossene Tür weisend.
- Und das daneben gehört Clarissa.
Zwischen den beiden nebeneinander liegenden Zimmern hing an der Wand ein schwerer, rostbrauner Vorhang aus einem steifen, festen Stoff. Phillip schob ihn zur Seite. Dahinter lag eine mit Tapeten verkleidete Feuertür aus Eisen. Er öffnete die Tür, und über eine schwindelerregend steile und schmale Wendeltreppe kletterten sie auf den Dachboden. Beim Geräusch ihrer Schritte flatterte Unruhe in den Taubenschlägen auf. Es war dunkel, das spärliche Licht der einsetzenden Abenddämmerung, das durch die Dachluke fiel, versickerte in der Düsterkeit des Raumes. Gloria konnte die Vögel nicht sehen, hörte nur das aufgeregte Gurren. Es stank nach Tieren und Pisse, sie hielt den Atem an. Phillip tastete nach dem Lichtschalter. Ein dünnes, rosiges Licht glomm auf.
- Das sind sie, sagte er stolz.
Gloria war überrascht. Sie hatte erwartet, dass der Junge eine besondere Art von Zuchttauben oder Brieftauben hielt. Das was sie hier jedoch sah, war nichts anderes als ein Dutzend ganz gewöhnlicher Tauben.
- Es sind Wildtauben, erklärte er, als hätte er ihre Gedanken erraten, ich habe sie selbst gefangen.
- Wie kann man Tauben fangen?.
- Es gibt da verschiene Methoden. Aber meistens fange ich sie mit dem Netz. Ich spanne das Netz über eine Vorrichtung, die ich extra dafür gebaut habe, und lege darunter Futter als Köder aus. Wenn sie kommen und fressen, peng, fällt das Netz auf sie herunter, und ich habe sie.
- Und das klappt? Sie entwischen dir nicht?
- Doch. Oft. Sehr oft sogar.
Wenn er lachte ging eine kleine Sonne auf in seinem Gesicht. Gloria fühlte sich in seiner Gegenwart weniger befangen, als in Clarissas Gegenwart.
- Man muss Geduld haben. Dann hat man auch hin und wieder Glück, sagte er.
Er entriegelte die Versperrung  des ersten Verschlages, öffnete die Gittertür einen Spalt breit und schob seine Hand hinein. Die Vögel gerieten in Bewegung, sie hüpften und flatterten durcheinander. Ein paar Tauben drängten sich im hinteren Teil des Käfigs zusammen, die anderen, Neugierigen und Mutigen wagten sich weiter nach vorne. Eine große, braune Taube hackte mit dem Schnabel nach Phillips Hand. Kein Laut des Schmerzes oder der Überraschung kam über seine Lippen. Er zog auch die Hand nicht fort, sprach nur beruhigend auf das Tier ein. Die Taube jedoch pickte weiter wie besessen auf ihn hin. Blut tropfte von seinen Fingern und seinem Handrücken, als er die Futterschüssel und die Wasserschüssel aus dem Verschlag herausnahm.
- Sie ist ziemlich aggressiv, bemerkte Gloria.
Er riss einen langen Streifen von eine Rolle Toilettepapier ab und wickelte ihn um seine Hand.
- Sie ist ein Er. Und er verteidigt nur sein Revier, erklärte er ihr.
Er riss noch ein Stück Toilettepapier von der Rolle ab und wischte die Schüsseln sauber. Auch aus dem zweiten Käfig holte er die Schüsseln heraus. Nachdem er sie gesäubert hatte, füllte er aus zwei Jutesäcken verschiedene Arten von Körner ein und schenkte Wasser aus einer Plastikflasche in die Tränken.
- Und was machst du mit all diesen Tauben? fragte Gloria.
- Das siehst du ja. Ich kümmere mich um  sie. Ich füttere sie und halte sie sauber.
- Das könnten sie in Freiheit auch selbst besorgen, entgegnete Gloria.
Sie bedauerte sie nicht, weil sie eingesperrt waren, aber sie sah auch keinen Sinn darin, sich Vögel in Käfigen zu halten.
- Sicher. Aber ich kann sie hier beobachten und kennen lernen. Ich untersuche ihr Verhalten, ihre Angewohnheiten. Sie haben alle etwas gemeinsam, sie sind Tauben und verhalten sich wie Tauben, aber darüber hinaus sind sie sehr verschieden. Jede von ihnen ist anders, jede hat ihren eigenen Charakter.
- Aber warum gerade Tauben?
- Weil sie leicht zu zähmen sind. Sie haben weniger Scheu als andere wilde Vögel. Ich liebe die Tauben, und sie lieben mich.
Glorias Blick wanderte unwillkürlich zu der braunen Taube.
- Ich hatte nicht den Eindruck, dass der da dich besonders liebt.
Der Vogel trippelte in vorderster Reihe vor dem Gitter des Käfigs auf und ab und behielt sie aus wechselnder Profilperspektive unablässig wachsam im Auge.
Phillip lachte.
- Ich habe dir schon gesagt, er ist nicht böse. Er ist bloß der Chef da in seinem Käfig, und er will, dass das keiner vergisst. Er ist schön und stark und das weiß er, das zeigt den anderen Tauben und mir. Er will einfach Eindruck schinden.
- Trotzdem ist er mir nicht gerade sympathisch, sagte Gloria.
In diesem Augenblick flog der Vogel auf, schlug mit den Flügeln krachend gegen das Gitter. Gloria wich erschrocken zurück, stieß mit den Hüften an den Tisch, auf dem der Junge die Futterschüsseln und Wassertränken abgestellt hatte. Das Wasser schwappte auf den Tisch und eine Futterschüssel fiel klirrend zu Boden. Sie bückte sich nach der Schüssel, aber Phillip  kam ihr zuvor.
- Es tut mir Leid. Entschuldige.
Sie hasste Vögel. Sie waren ihr unheimlich. Dem Jungen war ihre Furcht nicht entgangen.
- Keine Angst, beruhigte er sie, er tut dir nichts. Er fürchtet sich vor dir mehr als du vor ihm.
- Ja, ich weiß, erwiderte Gloria, er mag es bloß nicht, wenn man schlecht von ihm spricht. Nicht wahr?
Phillip grinste.
- Siehst du, du hast schon dazu gelernt.
- Darauf kann ich verzichten. Danke.
Der Junge breitete die Arme aus.
- Aber deshalb bist du doch hier.
- Was meinst du damit?
- Du bist hierher gekommen, um etwas zu lernen. Aber was es ist, weiß ich nicht.
- Du machst dich über mich lustig!
- Nein. Wirklich nicht. Ich schwöre es. Clarissa sagt, dass nichts zufällig geschieht, dass es immer einen Grund gibt, weshalb man an einen bestimmten Ort ist, oder einen bestimmten anderen Menschen trifft. Verstehst du?
- Ja, sagte sie, zum Beispiel weil man Benzin braucht. Oder hast du das vergessen?
- Nein, ich habe es nicht vergessen, antwortete er.
Phillip füllte das verschüttete Futter und Wasser nach und stellte Futterschüsseln und Wassertränken in die Käfige zurück. Zärtlich sprach er auf die Tauben ein, lockte sie mit Futterstückchen, streichelte ihre Köpfchen, ihr Gefieder. Auch der wilde Täuberich schien besänftigt. Mit kleinen, spitzen Schnabelhieben hatte er seine Nachbarn von der Futterschüssel weggescheucht, und kostete nun seine Überlegenheit aus. Gloria traute ihm immer noch nicht, sie hoffte er würde bloß nicht entkommen.
- Sieh mal!
Phillip schlüpfte behutsam seine Hand in den Käfig und zog eine zarte, weißgraue Taube heraus.
- Das ist Loretta, sagte er.
Still und unbeweglich kauerte die Taube in seiner Hand. Nur der kleine, gewölbte Brustkorb bebte im Takt ihres schnellen Herzschlages. Mit zwei Fingern liebkoste er ihren Hals. Das Täubchen ließ es sich gefallen, teilnahmslos, ohne Anzeichen von Wohlgefallen zu zeigen.
- Sie ist meine Lieblingstaube. Ist sie nicht wunderschön?
Er hielt Gloria die Taube hin, wie eine Kostbarkeit.
- Sie wirkt zumindest friedlich, sagte sie ausweichend.
- Sie ist ein sanftes und kluges Geschöpf. Ich habe sie vor zwei Jahren als Junges aus einem Nest geholt und aufgezogen. Deshalb ist sie so anhänglich.
Gloria fand, dass die Taube weniger anhänglich als apathisch aussah. Aber sie verkniff sich die Bemerkung. Die Zuneigung der Tauben zu dem Jungen erschien ihr äußerst fragwürdig, aber seine Liebe zu ihnen war echt, auch wenn sie grausam war. Er kramte ein Stück Weißbrot aus seiner Hosentasche und hielt es der Taube hin.
- Komm mein Kleines friss! Sieh mal, ich habe dir einen besonderen Leckerbissen mitgebracht. Nur für dich allein.
Er murmelte leise, kosende Worte über das Köpfchen der Taube, die so weich und flaumig in seiner Hand saß. Sie rührte sich nicht, machte keinerlei Anstalten das Brot zu beachten, geschweige denn auch nur ein Krümelchen davon mit dem Schnabel herauszupicken.
- Sie frisst seit einer Woche nicht, sagte Phillip bekümmert, und ich habe noch nicht herausgefunden, was ihr fehlt.
Vielleicht hatte sie ihr Leben einfach satt, dachte Gloria. Der Junge küsste die Taube und setzte sie vorsichtig in den Käfig zurück. Sie glitt von seiner Hand und humpelte ungelenk in eine Ecke des Käfigs, in der sie sich niederließ. Sie lahmte auf einem Bein. Die anderen Tauben, die sich immer noch Körner aufpickend um das Futter scharrten, beachteten sie nicht.
- Ist sie verletzt? fragte Gloria.
Obwohl sie Vögel nicht mochte, empfand sie einen Anflug von Mitleid mit diesem Tier. Die Taube tat ihr nicht unbedingt Leid, weil sie aus dem Nest geraubt worden war und in diesem düsteren Dachbodenverschlag ihr Leben verbrachte, auch wenn Gloria sich nicht vorstellen konnte, dass ihr das gefiel. Sie tat ihr bloß Leid, weil sie so ausgeschlossen war, in sich selbst abgeschlossen inmitten des geschäftigen Umtriebes ihrer Artgenossen.
Phillip schüttelte den Kopf.
- Ich habe keine Wunde entdeckt, ich glaube auch nicht, dass ihr Bein gebrochen ist. Und auch wenn ihr Bein gebrochen wäre, würde sie fressen. Tauben sind zäh, die geben nicht so leicht auf.
- Und wenn sie es doch tun?
Er zuckte mit den Schultern.
- Dann sind sie sehr krank, in dem Fall ist ihnen ohnehin nicht mehr zu helfen.
Gloria sah, dass ihm die Vorstellung Kummer bereitete. Sie hätte ihm gerne etwas Tröstendes gesagt, aber es fiel ihr nichts ein, was sie ihm zu der kränkelnden Taube hätte sagen können, weil es ihr gleichgültig war, ob sie starb. Von ihr aus hätten alle diese Tauben hier sofort tot umfallen können.
- Sie wird schon wieder in Ordnung kommen, sagte sie lahm.
Sie wusste nicht, ob er es ihr abnahm, oder ihre geheuchelte Anteilnahme durchschaute. Vielleicht entschied er sich auch nur, es für das zu nehmen, was es war, ein Bemühen nett zu sein.
- Ja, sagte er, das hoffe ich. Bis jetzt ist mir erst eine Taube hier gestorben. Sie war schon krank als ich sie gefangen und hergebracht habe. Es ist mir nur nicht gleich aufgefallen. Aber die anderen Tauben haben es sofort bemerkt. Sie spüren das Kranke und Schwache und sondern es aus. Sie haben ihr das Leben schwer gemacht. Eines Morgens lag sie tot im Käfig. Sie war nicht von selbst verendet, die andere haben sie umgebracht.
- Wie scheußlich!
- Für uns ist es vielleicht scheußlich, aber nicht für sie. Es ist ihr Instinkt.
Er streckte das Brotstückchen, das er immer noch in der Hand hielt durch das Maschengitter des Käfigs. Loretta beobachtete ihn still aus ihrem Winkel heraus, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Eine andere Taube machte sich an dem Leckerbissen zu schaffen, zog ihn mit dem Schnabel durch die Maschen des Gitters hindurch, legte ihn sich zu Füßen und zerpflückte ihn.
- Bist du jetzt enttäuscht? fragte Phillip.
- Nein.
- Doch du bist enttäuscht.
- Nein, ich habe mir nichts Besseres erwartet.
Sie dachte, dass es seltsam war, mit welchen Dingen sich Kinder in diesem Alter beschäftigten. Auch ihr Bruder hatte, als sie Kinder waren, ein eigenartiges Interesse an Tieren gehabt. Er hatte alles mögliche an Tieren gesammelt, Spinnen und Käfer, Frösche und Mäuse. Gloria hatte nie herausgefunden, was er mit ihnen angestellt hatte. Er hatte sie angeschleppt und in Gläser, Schachteln oder Käfige gesteckt. Nach einiger Zeit waren sie auch wieder verschwunden, eben so plötzlich wie sie aufgetaucht waren. Gloria hatte nie nachgeforscht was aus ihnen geworden ist. Und da war noch der Wellensittich gewesen, den ihr Bruder eines Tages nach Hause gebracht hatte. Jener Vogel, der sie bis heute in die Tiefe ihrer schlimmsten Träume verfolgte. Sie empfand auf einmal das Gurren der Tauben, das Scharren ihrer Krallen, das Schlagen ihrer Flügel als unerträglich. Sie musste es auf der Stelle loswerden, aus den Augen, den Ohren bekommen.
- Ich brauche frische Luft, sagte Gloria.
Sie wollte kein Wort mehr hören über Tauben, deren Aufzucht und Verhaltensweisen. Es brachte sie auf schlechte Gedanken. Phillip sah zu ihr herüber als suchte er nach einer Erklärung für ihre plötzlich umgeschlagene Stimmung, aber sie hatte keine Lust irgendetwas zu erklären.
- Gut, sagte er, dann gehen wir. Ich bin hier fertig für heute.
Er versicherte sich, dass die Türen der Käfige ordentlich geschlossen waren.
- Die Käfige säubere ich morgen. Eigentlich hatte ich es mir für heute vorgenommen, ich mache das alle drei Tage, ich bin da normalerweise sehr genau. Sauberkeit ist wichtig, um Krankheiten und Ungeziefer zu vermeiden. Aber wenn schon einmal Besuch kommt, dann kann man eine Ausnahme machen.
Er wartete bis Gloria die Wendeltreppe hinuntergestiegen war, dann löschte er das Licht und folgte ihr.
- Wir haben in diesem Haus nicht oft Besuch, und jedem zeige ich auch nicht meine Tauben.
Sie drehte sich um.
- Und warum ausgerechnet mir?
- Weiß nicht.
Er wich ihrem Blick aus, starrte auf den Boden.
- Ist nur so ein Gefühl.
Aus Neugierde hätte Gloria zwar schon gerne gewusst, was für ein Gefühl das war, aber sie verzichtete darauf es herauszufinden, weil sie aus einem unbestimmten Grund, den Eindruck hatte, dieses Gefühl würde sich wie eine langgehegte Bedrohung vor ihr aufrichten.