Textprobe

Auszug aus dem Roman
Der Flügelschlag einer Möwe                         
von Patricia Brooks

Willi
1980 – Triest


Die Piazza ist angenehm schattig. Zu viel Sonne, zu viel Strand in den letzten Tagen. Willi sitzt unter der dunkelgrünen Segeltuchmarkise in einem Straßencafé und trinkt seinen Campari. Er hat am Morgen den Bus von Sistiana nach Triest genommen. Er braucht Abwechslung. Der Campari zergeht bittersüß und wohltuend kalt auf der Zunge. Der Kellner hat das Glas bis zum Rand mit Eiswürfeln gefüllt, sie stecken darin fest wie kollidierte Eisberge in einem karmesinroten Meer. Auf dem Tisch liegt ausgebreitet eine österreichische Zeitung, die Willi am Kiosk gekauft hat. Der Inhalt ist mickrig angesichts des überhöhten Preises, den er bezahlt hat. Aber in Wahrheit interessiert es ihn im Augenblick sowieso nur bedingt, was in der Welt passiert. Er liest bloß, um sich die Zeit zu vertreiben, eingebettet in dem weichen Gezwitscher der italienischen Sprache um ihn herum, das ab und zu unterwandert wird von deutschsprachigen und holländischen Einschüben von Touristen, die an ihm vorbeiziehen. Einige hübsche Mädchen fallen ihm auf. Auch das Mädchen, das am Nebentisch Platz genommen hat, gefällt ihm, immer wieder sieht er aus dem Augenwinkel zu ihr hin. Sie ist klein und schmal, hat dunkle, lange Haare, die bis zur Taille reichen, und große braune Augen. Auf ihrem Kopf steckt eine schwarze Sonnenbrille, die das Haar wie ein Haarreifen aus dem Gesicht hält. Sie trägt Jeansshorts und eine violette, ärmellose Bluse. Während sie mit dem Kaffeelöffel in dem Milchschaum ihres Cappuccinos rührt, fächelt sie sich mit einem Taschenbuch Luft zu. Als ihr Blick auf Willi trifft, lächelt er sie an. Einen Augenblick lang zieht sie die Augenbrauen zusammen, als denke sie nach, ob sie einander kennen und sie sich jetzt erinnern sollte, wer er ist. Dann lächelt sie zurück. „Heiß“, sagt sie auf Englisch mit italienischer Aussprache und Betonung, „sehr heiß.“
Sie schneidet eine Grimasse, Willi lacht und fragt sie, ob sie sich zu ihm setzen will. Sie erhebt sich, steckt das Buch in die Handtasche, die sie sich unter den Arm klemmt, und balanciert die Tasse mit ihrem Cappuccino zu seinem Tisch. Der Löffel rutscht dabei von der Untertasse und fällt auf den Boden. Willi bückt sich, um ihn aufzuheben.
„Danke“, sagt sie.
Als sie sich auf dem Sessel neben ihm niederlässt, nimmt er einen blassen, daumennagelgroßen blauen Fleck auf ihrem Oberarm wahr und den salzigen Geruch von warmer Haut, vermischt mit dem Duft eines Deodorants. Sie wischt den Löffel mit dem Saum ihres T-Shirts ab und steckt ihn wieder in den Kaffee. Sie lacht dabei und macht eine wegwerfende Handbewegung, wie um zu sagen, so bin ich, denk nicht weiter darüber nach. Willi lacht mit, nicht wegen des Löffels, sondern wegen des Mädchens, er spürt, wie ihre Nähe ihn betört, er betrachtet verstohlen die dünnen, nackten Beine, die unruhigen Füße, die in silberfarbenen, ein wenig abgewetzten Sandalen wippen. Er kann ihr Alter nicht so recht einschätzen, sie ist jünger als er, sechzehn vielleicht, aber bei Mädchen ist das schwer zu sagen. Er hat sich da schon oft getäuscht. Ihre dunklen Augen spielen mit ihm, keck und selbstbewusst.
„Zu viel Sonne?“, fragt sie, runzelt die Stirn und deutet auf Willis Nase.
Willi nickt. Die Haut auf seiner Stirn, dem Nasenrücken und den Wangenknochen schält sich in weißgrauen Schüppchen und darunter wachsen kleine, rote, rohe Hautinseln nach, die brennen und bei Berührung schmerzen. Er hat mit den Freunden am Strand Fußball und Volleyball gespielt und vergessen, im Gesicht Sonnencreme aufzutragen.
„Und ich bin rothaarig“, sagt Willi und zupft an seinem Haar. Der Kellner kommt vorbei und fragt, ob sie noch etwas trinken wollen. Willi sieht das Mädchen fragend an.
„Auch einen Campari“, sagt sie. Willi bestellt zwei.
„Und was liest du da?“, fragt er, auf das Buch deutend, das in ihrer Tasche steckt.
„Poesie“, sagt sie.
Willi lacht überrascht. „Oh, tatsächlich?“
„Ja. Wieso?“ Sie beugt sich zu ihm mit einem herausfordernden Blick, der seinen Herzschlag ins Stolpern bringt. In diesem Augenblick ist ihm klar, dass sie mit ihm flirtet, und es gefällt ihm. Sie gefällt ihm.
„Ich weiß nicht, nur so. Ich habe schon lange keine Gedichte mehr gelesen“, sagt Willi, „und eigentlich kenne ich niemand, der gerne Gedichte liest.“
„Jetzt schon. Mich. Aber egal, ich habe eine Idee.“ Sie steht auf und geht in das Café hinein. Willi sieht, wie sie sich über die Theke beugt und mit dem Kellner spricht. Als sie zurückkommt, bringt sie ein rundes Tablett mit einem Würfelbecher und einem Satz Pokerwürfel mit. Aus ihrer Handtasche zieht sie drei Tausendlire-Scheine heraus und legt sie auf den Tisch. „Okay?“, fragt sie.
„Du willst um Geld spielen?“
„Ja, ja.“ Ihr Lächeln. Sie rückt den Sessel zurecht, nimmt die Würfel in die Hand und lässt sie in den Becher rieseln. Willi fällt an ihrem Handgelenk der rosige Wulst einer Narbe auf. Sie erinnert ihn an die Brandwunde, die sich seine Mutter einmal zuzog, als sie einen Kuchen aus dem heißen Backrohr nahm und sich dabei die Innenseite des Handgelenks am Rost verbrannte. Das Mädchen bemerkt seinen Blick. Willi fühlt sich ertappt und weiß nicht, wieso.
„Komm schon“, sagt sie.
Er holt seine Brieftasche hervor und legt ebenfalls drei Tausendlire-Scheine auf den Tisch. Sie reicht ihm den Würfelbecher. „Na dann“, grinst Willi. Er verschließt den Becher mit einer Hand, schüttelt ihn mit der anderen und leert die Würfel auf das Tablett. Pik König, Treff Dame, Herz Zehner, Treff Bube und Herz Bube. Er lässt die Buben liegen, schaufelt die anderen Würfel in den Becher zurück, schüttelt sie und kippt sie nochmals auf das Tablett. Treff Zehner, Treff König und Pik Bube. Willi spielt auf Straße und packt zwei Buben in den Becher. Dritter Wurf. Treff Dame und Herz Bube.
„Zwei Buben“, seufzt er und schiebt die beiden Würfel auf dem Brett zusammen.
Das Mädchen macht ein bedauerndes Gesicht und notiert es auf einem Zettel, auf dem sie zwei Spalten gezogen hat. Nun ist sie an der Reihe. Mit Schwung rollen die Würfel über das Brett. Drei Asse, zwei Damen. Full House serviert. Sie klatscht triumphierend in die Hände. „Bravo“, sagt Willi anerkennend.
Sie spielen eine Runde und das Mädchen gewinnt. Sie spielen eine zweite Runde, und sie gewinnt abermals. Es ist Mittag und die Hitze glüht. Die Luft steht still. Selbst hier im Schatten unter der Markise hat Willi das Gefühl, die sengenden Sonnenstrahlen dringen durch die Poren des dicken Segeltuchstoffes hindurch. Ein Netz feiner Schweißtropfen überzieht seinen ganzen Körper. Sein T-Shirt ist feucht und sein rotblondes Haar klebt im Nacken. Das Mädchen fächelt sich mit der Hand Luft zu, kleine nasse Flecken zeichnen sich auf ihrer Bluse unter den Achseln und am Bauch ab und auch die Innenseiten ihrer Schenkel glänzen feucht. „Es ist so heiß“, stöhnt sie.
„Ja.“ Willi wischt sich über den Nacken. Der Alkohol und die Hitze sind ihm leicht zu Kopf gestiegen. Das Mädchen stellt das Würfelbrett auf den freien Tisch nebenan und steckt das Geld, das sie gewonnen hat, in ihre Tasche.
„Und jetzt?“, fragt er. „Wollen wir irgendwo anders hingehen? Zum Meer? Spazieren?“ „Einverstanden.“ Sie nimmt ihre Tasche, Willi sieht sich nach dem Kellner um und bezahlt. Die Hitze ist zum Schneiden. Sie gehen im Zickzack, immer auf die schattigere Straßenseite wechselnd. Willi hat keine Ahnung, wohin sie ihn führt, und es ist ihm auch egal. Ganz selbstverständlich schlingt sie den Arm um seine Hüfte und hakt ihren Daumen in seinen Gürtel ein. Willi legt den Arm um ihre Schultern. Seine Hand verfängt sich dabei in ihrem Haar. Behutsam wischt er es beiseite, damit er sie nicht unabsichtlich daran reißt. Sie ist dünn und knochig, aber ihre Haut ist weich. Ihr Gang ist schlaksig, ihre Hüfte stößt immer wieder an seine, so dass sie im Gehen außer Takt geraten. Dann schmiegt sie sich an ihn und lacht, als wäre es das Komischste auf der Welt. Willi zieht sie an sich und drückt seine Wange leicht, wie unbeabsichtigt, gegen ihren Kopf. Er spürt, wie sein Herz schneller zu schlagen beginnt. Seine Lippen berühren ihr Haar, er atmet den pflaumigen Geruch ein. Sie dreht ihm ihr Gesicht zu, und Willi küsst sie. Sie bleiben stehen. Das Mädchen schließt die Augen, ihre Zunge ist neugierig und flink. Willi weiß nicht recht, wie ihm geschieht, die Hitze, der Körper des Mädchens, ihr Mund, der nach Campari schmeckt, das alles ist wie ein Rausch, der langsam aufzieht. Das Mädchen aber löst sich aus der Umarmung. „Komm weiter“, sagt sie und zieht ihn mit sich.
Als die Uferpromenade in Sicht kommt, streckt sie den Arm mit nach oben gerichteter Handfläche aus, als böte sie ihm den Stadtstrand als Geschenk an. „Barcola.“ Die Promenade ist weitläufig, ein kilometerlanges Betonband mit schattenspendenden Bäumen, Bars und Restaurants, Flaniermeile und Strand zugleich. Menschen, Liegebetten, Luftmatratzen und Badetücher säumen den Rand der Promenade, die zum Meer hin mit Felsblöcken befestigt ist. Kinder klettern darauf herum. Der Himmel ist verwaschen blau, es ist dunstig und das Meer glänzt wie Quecksilber. Die Sonne brennt vom Himmel. Willi denkt an seine Haut. Sie finden einen schattigen, ruhigen Platz unter einem der Bäume und setzen sich auf den Boden. Das Mädchen beugt sich zu Willi und küsst ihn abermals. Ihre Hand wandert über seinen Schenkel, seinen Bauch. Willi hält sich zurück, streichelt ihren Rücken, ihre Arme, traut sich nicht, ihre Brüste zu berühren. Aber das Mädchen nimmt seine Hand, führt sie zwischen ihre Beine und greift ihm an den Schwanz. Er war sowieso schon steif. Sie lächelt und gurrt ihm etwas ins Ohr, das er nicht versteht.
„Was?“, fragt er zerstreut und streichelt ihr Gesicht. Er fühlt sich benebelt von ihrer Gegenwart, nicht ganz bei Sinnen, ein angenehmer Zustand.
„Ich muss auf die Toilette“, sagt sie entschuldigend. Sie bedeutet ihm, hier auf sie zu warten. Er setzt sich so hin, dass man seine Erektion nicht bemerkt und sieht ihr nach, wie sie in ihrem staksig schlenkernden Gang, der aus unerfindlichen Gründen erotisch auf ihn wirkt, zu den Toiletten bei der blauen Strandbar geht. Georg schlägt Willi auf die Schulter und lacht. Auch Fred, Isabel und Stefan grinsen. Tati macht große Augen. Er kann es ihnen nicht verdenken.
„War das dein ganzes Geld, das du für den Urlaub mithattest?“, fragt Tati besorgt, und er sieht ihr an, dass es ihr leid für ihn tut.
„Nein, zum Glück nicht.“
Das Mädchen kam von der Toilette nicht mehr zurück. Löste sich auf in der Hitze des frühen Nachmittags wie eine Fata Morgana. Es dauerte eine Weile, bis er es begriff. Erst sagte er sich, dass es bei Mädchen eben immer länger dauert, dass sie nicht nur zum Pinkeln auf die Toilette gehen, sondern sich frisieren, schminken oder sonst was tun. Allmählich aber kam es ihm zu lange vor, und er hielt Ausschau nach ihr, dachte, dass sie ihn vielleicht nicht wiedergefunden hatte, an ihm vorbeigelaufen war und nach ihm suchte. Er stand auf und sah sich um, aber nirgendwo entdeckte er sie. Also ging er zu den Toiletten in der Bar. Als er sich zufällig hinten an die Hosentasche griff, bemerkte er, dass da was nicht stimmte. Seine Brieftasche fehlte. Wo um alles in der Welt hatte er seine Brieftasche verloren? Vielleicht war sie ihm aus der Hosentasche gerutscht. Hastig ging er zurück zu dem Platz, wo er mit dem Mädchen gesessen war. Aber da lag sie nicht. Und mit einem Mal wusste er es. Sie hatte ihn ganz schön hereingelegt.
Der Tag war heiß und drückend und auch der Abend ist immer noch schwül. Katrin und Isabel sind mit den zwei Italienern ausgegangen. Tati, Stefan und Fred wollen später in den Club zum Tanzen. Georg und Willi haben keinen Plan. Georg schlägt Willi vor, sie könnten mit dem Auto ein bisschen in der Gegend herumfahren. Willi hat keine große Lust dazu, aber etwas Besseres fällt ihm auch nicht ein, und die Vorstellung, den stickigen Abend in dem stickigen Haus zu verbringen, ist nicht verlockend. Also stimmt er zu. Georg ist der Einzige von ihnen, der schon ein Auto besitzt, einen alten blauen VW Golf. Sie kurbeln die Fenster bis zum Anschlag hinunter. Der Fahrtwind wirbelt ihnen durchs Haar und verschafft ihnen eine schwache Abkühlung. Im Autoradio spielen italienische Sommerhits. Sie verdrehen die Augen und Willi sucht im Handschuhfach nach Kassetten. Georg verlangt Pink Floyd. The Wall.
„Wieso hat Richard Wright die Band verlassen“, fragt er mehr sich selbst als sein Gegenüber, „wie soll das ohne ihn weitergehen?“ 
„Sie haben ihn rausgeworfen“, stellt Willi richtig, „er ist übergeschnappt.“
„Roger Waters ist übergeschnappt. Wright ist genial“, protestiert Georg.
Willi schiebt die Kassette in den Schlitz des Autoradios, die Musik springt um auf Pink Floyd, und Willi dreht ein wenig lauter. The Happiest Days of Our Lives. Georg spitzt die Lippen und wippt mit dem Kopf im Takt. Willi lehnt sich bequem zurück und legt den Ellbogen ins offene Seitenfenster. Der Fahrtwind streicht angenehm seidig über seine Haut. Es fühlt sich gut an. Besser als irgendwo in einem Lokal zu sitzen. Sie fahren die Küste entlang. Die Musik versetzt sie in eine leichtherzige Stimmung. The Happiest Days of Our Lives.
„Ich habe das Gefühl“, sagt Georg, „jetzt, da die Schule vorbei ist, liegt das Leben vor uns ausgebreitet wie ein riesiges Tuch, auf dem das Füllhorn an Möglichkeiten ausgegossen ist, und wir brauchen bloß zu wählen. Aber wir müssen sorgfältig wählen, wohl überlegen, was wir uns davon schnappen wollen, wir dürfen jetzt keine Fehler machen, sonst läuft das Leben in die falsche Richtung. Und ich will, dass es richtig läuft.“
„Was stellst du dir darunter vor?“, fragt Willi amüsiert.
„Ich will etwas von Bedeutung machen. Etwas, das bleibt.“
„Spinner.“
„Nein, im Ernst. Ich will Filme machen.“
„Das wirst du.“
„Ich hoffe es. Und du?“
„Keine Ahnung. Mal sehen.“ Willi ist es gleichgültig, ob er etwas von Bedeutung in seinem Leben machen wird oder nicht. Dieser Anspruch ist ihm nie in den Sinn gekommen. Er will etwas tun, das ihm Spaß macht, und ausreichend damit verdienen, so dass er gut leben kann. Er braucht dafür nicht viel Geld. Unter gut leben versteht er, dass er das tun kann, was ihm gefällt. Sport, Musik und vielleicht reisen. Surfen lernen. Another Brick in the Wall. Part Three. Sie kommen an einer Trattoria vorbei und legen einen kurzen Halt ein, um eine Piadina zu essen. Tati und Stefan waren heute Abend mit dem Kochen an der Reihe und beide sind erbärmlich an den Töpfen. Sie haben das Hühnerfleisch verbrannt, so dass es nach Kohle und geröstetem Rosmarin schmeckte, und der Salat war auch ungenießbar, in Essig ertränkt.
„Auf alle Fälle solltest du dir was Gescheites überlegen“, sagt Georg, schlägt die Wagentür zu und versperrt sie, „wir verlieren ohnehin schon ein Jahr mit dem Zivildienst.“ 
„Ich habe es mit der Karriere nicht eilig“, erwidert Willi. Sie steuern unter dem weichen Licht der Laternen im Gastgarten den letzten freien Tisch an. Der Kellner fragt, ob sie reserviert haben, und als sie verneinen, weist er ihnen einen Tisch drinnen im Restaurant zu. Sie beschließen, die Piadina lieber im Auto zu essen. Während sie darauf warten, dass der Koch die hauchdünnen Teigfladen auf der heißen Platte bäckt und mit Rohschinken füllt, bestellt Willi noch eine Flasche Chianti dazu.
Im Auto kurbeln sie wieder die Fenster herunter und drehen Pink Floyd auf. Willi spült den herbwürzigen Geschmack des Prosciuttos mit Rotwein auf Hochglanz. Georg nimmt ebenfalls einen kräftigen Schluck und reicht ihm dann die Flasche zurück. „Genug. Ich muss fahren“, sagt er mit Bedauern.
„Kein Problem. Ich kümmere mich schon darum.“ Die Musik, der Fahrtwind und der Chianti versetzen Willi in gute Stimmung. Die Wiedergutmachung für die geklaute Brieftasche. Alles ist gut und das Leben schön. Kurz vor Triest machen sie am Straßenrand Halt, und Willi steigt zum Pinkeln aus. Es ist nicht viel Verkehr und so macht er sich nicht die Mühe, ins Gebüsch zu steigen. Als er fertig ist, schlägt Georg vor, dass sie zurück nach Sistiana fahren. Willi ist einverstanden. Die Küstenstraße fädelt sich durch felsige Tunnels. Eine schwarze Limousine überholt sie.
„Auch nicht schlecht, schau mal“, sagt Willi und deutet auf das schwarze Heck.
„Ja“, räumt Georg ein. „Was ist das? BMW? Oder Audi?“
„Ich konnte es nicht erkennen“, erwidert Willi. Eigentlich interessiert er sich nicht besonders für Autos, es muss der Alkohol sein, der ihn plötzlich über Autos reden lässt.
„Auf alle Fälle sind sie schnell unterwegs“, stellt Georg fest, während der schwarze Wagen davonfährt und hinter einer Kurve verschwindet. Die Musik ist aus. Willi öffnet das Kassettendeck, nimmt die Kassette heraus und steckt sie zurück in die Hülle. „Was willst du jetzt hören?“, fragt er.
„Egal“, sagt Georg.
Willi durchsucht die Kassetten im Handschuhfach. „The Cure?“
„Absolut perfekt.“ Der Rest der Fahrt gehört Robert Smith und Band.
Als sie in Sistiana ankommen, fragt Georg, ob Willi Lust habe, noch in den Club zu gehen. Die anderen seien bestimmt noch dort und es sei nicht sehr spät. Willi winkt ab. Er hat die Flasche Chianti leer getrunken und fühlt sich beschwipst. Es ist schwül und der Alkohol hat  ihn schläfrig gemacht. Er sagt, Georg solle alleine gehen, er wolle zurück zum Haus und ins Bett.
„Ich kann dich hinfahren“, schlägt Georg vor.
„Nein, ist ja nicht weit. Halt einfach da an.“
„Sicher?“ Georg fährt den Wagen an den Straßenrand und Willi öffnet die Tür.
„Sicher. Wir sehen uns später.“ Er steigt aus und tippt sich mit zwei Fingern zum Gruß an die Stirn. Georg fährt los. Willi geht ein Stück den Weg zurück, den sie gerade gekommen sind, und biegt dann links auf die Straße, die aus dem Ort hinausführt. Das Ferienhaus, das sie gemietet haben, steht ein wenig außerhalb. Er ist angenehm betrunken und es ist eine helle Nacht, der Mond ein weißer, gleißender Fleck am Himmel, der die Sterne überstrahlt. Gedichte. Sie hat doch tatsächlich gesagt, dass sie Gedichte mag. Auch eine Lüge wahrscheinlich.
An der Ecke, wo die rosa Villa steht, die ihnen in den ersten Tagen als Orientierungspunkt gedient hat, um den Weg zu ihrem Haus zurückzufinden, nimmt er die Abkürzung durch das kleine Wäldchen oder was auch immer es ist, ein Stück Brachland, wo neben verdorrtem Gras ein paar Pinien und Büsche wachsen. Es riecht warm nach Nadeln, Harz und Thymian. Er stolpert über einen Stein und flucht. Zum Glück trägt er Sportschuhe und keine Sandalen. Die Tankstelle kommt in Sicht, er muss sie überqueren, dann ist es nicht mehr weit bis zum Haus.
Die Tankstelle hat geschlossen und ist nur spärlich beleuchtet. Ein Auto ist da geparkt, sonst nichts. Ein braunes Päckchen am Boden sticht Willi ins Auge. Beim Näherkommen erkennt er, dass es ein Kuvert ist. Als er sich danach bückt, entdeckt er, dass hinter der Zapfsäule ein Mann am Boden liegt.
„Alles in Ordnung?“ Willi geht zu ihm hin, beugt sich hinunter und rüttelt am Arm des Mannes. „He, alles in Ordnung?“, wiederholt er erschrocken.
Der Mann reagiert nicht, liegt reglos da, die Augen starr unter halb geöffneten Lidern, er scheint tot zu sein. Willi weiß nicht, was er jetzt tun soll. Er ist zu betrunken, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Wer ist der Mann? Willi tastet die Brusttasche der Jacke des Mannes nach einem Ausweis oder Führerschein ab, aber da ist nichts. Vielleicht findet er etwas in dem Kuvert, das Aufschluss geben könnte. Es ist nicht zugeklebt. Willi hebt die Lasche und traut seinen Augen nicht. Geld. Viel Geld. Das ist kein gutes Geld, sonst wäre der Mann hier nicht tot, folgert Willi. Und in diesem Augenblick hat er eine Idee. Dem Mann ist nicht mehr zu helfen, also steckt er das Kuvert unter den Arm und trottet beherzt weiter, bis er das Ferienhaus erreicht. Vor seinen Augen schwankt die Welt. Er bedauert, dass die Freunde noch nicht aus dem Club zurück sind, zu gerne hätte er ihnen seinen Fund gezeigt. Dann muss das eben warten. Er stopft das Kuvert in seinen Reiserucksack und legt sich vorerst einmal schlafen.